Weihnachtsstrauß

Ich gebe ja zu: es war zwar nicht fünf vor zwölf, aber doch zehn vor eins, als ich den Blumenladen in Neubiberg betrat um ein paar Blumen für den Esstisch zu erwerben. Um Eins schließen sie am Samstag. In den Minuten danach stürmten noch drei weitere Männer in den Laden. Die anwesenden Damen lächelten milde. Ich hatte mich schnell mit der Chefin auf eine Amaryllis, ein paar Disteln und ein wenig Drumherum geeinigt. Ich wusste ihr auch zu berichten, dass die Distel das Nationalgewächs Schottland sei. Mein Freund Alex meinte immer, der Grund dafür sei, dass die Distel „prickly and hard to eradicate“ sei – also stachlich und nur schwer auszurotten. Das würde ich ein wenig auch für mich in Anspruch nehmen .

© Thomas Michael Glaw

Der Herr hinter mir hatte es eilige, Griff schnell einen fertigen Strauß, verlangte noch nach einem dieser wunderbaren, geschmackvollen Einstecker in Herzchenform und bezahlte. Als schon halb durch die Ladentür gegangen war, drehte er sich noch einmal um und fragte: „Brauchen die jetzt eigentlich Wasser?“ Die Verkäuferin sah ihn an, als hätte er gefragt, ob der Papst katholisch sei. „Ja freilich!“ antwortete sie. Er erwiderte: „Ich meinte ja nur. Wegen des Tannengrüns.“ „Das braucht auch Wasser“, war die Antwort. „Sonst nadelt es“.

Als er den Laden verlassen hatte haben wir alle herzlich gelacht. Wenn Männer schon einmal Blumen kaufen …

Weihnachtskarten

Es gab eine Zeit, in der man selbst den entferntesten Verwandten zu Weihnachten eine Karte sandte. Als Student in den späten siebziger Jahren war das eher nervig. Heute muss ich sagen, mir fehlen diese Karten.

Bücherregale, die sich langsam mit Weihnachtskarten aus aller Welt füllten, zeigten, dass Weihnachten überall seine Wirkung entfaltete. Natürlich war und ist da auch jede Menge Kommerz am Werk. Natürlich kann man trefflich darüber streiten, was Weihnachten wirklich bedeutet.

© Thomas Michael Glaw

Historiker werden argumentieren, die christliche Kirche hätte das Fest der Geburt ihres Erlösers einfach auf einen Tag kurz nach dem Winter Solstitium verlegt, der schon vor zweitausend Jahren gefeiert wurde. Die Kirche war im Altertum groß darin, alte Traditionen anderer Kulturen zu für sich zu vereinnahmen.

Was aber bedeutet mir Weihnachten heute?

Es ist eine Zeit, Atem zu holen und zu reflektieren. Über ein fast vergangenes Jahr nachzudenken. Darüber, was man Gutes getan hat. Darüber, was man vielleicht besser nicht getan hätte, und darüber, was man, vielleicht wider besseres Wissen, unterlassen hat.

In den letzten Wochen las ich noch einmal Christopher Clarkes „Sleepwalkers“, und es gibt Momente, in denen ich uns auf demselben Weg sehe. Es ist Zeit, aufzuwachen. Wir gehen wieder schleichend auf eine Konfrontation zu, bei der wir alle nur verlieren werden, und vor der uns kein noch so wohlmeinender Gott schützen wird. Er (oder moderner formuliert „Sie“ oder vielleicht noch irgendetwas anderes) hat es in den letzten paar tausend Jahren auch nicht getan. Er hat uns nach der Vertreibung aus dem Paradies uns selbst überlassen. Sprich: wir sind ziemlich allein auf dieser Welt. Und bei allem Vertrauen in ein höheres Wesen: es ist uns überlassen, eine Katastrophe zu verhindern. Nur mit albernen Hashtags wird das nicht gelingen.

Wenn wir die Meinungshoheit weiterhin den Gilets Jaunes, der AfD, den Trumps, den Putins und den Xi Jinpings dieser Welt überlassen, wird bald von dem, das unser Leben wesentlich ausmacht, nichts mehr übrig sein. Die Freiheit, zu denken und zu sagen, was man denkt. Das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz. Eine soziale Verpflichtung des Eigentums. All das, was uns die Aufklärung beschert hat – übrigens auch das zu glauben, was uns gefällt, den Gott zu verehren, der uns entspricht – wird verschwinden.

© Thomas Michael Glaw

Das Kind, an dessen Krippe wir heute Abend stehen werden, wollte keine Kreuzzüge, keine Hexenverfolgungen, keine Kriege um seiner selbst willen. Es wollte auch keine Theokratie, wie wir sie heute immer noch in der Kirche haben und wie sie der Ängstlichkeit vieler zu passe kommt. Das Kind, dessen romantisch verklärte Geburt wir heute begehen, ruft seit zweitausend Jahren zur Umkehr auf. Es tut es noch immer.

Nur wir haben es noch immer nicht begriffen.

Trotz allem:

Gesegnete Weihnachten
Buon Natale.
Feliz Navidad.
Joyeux Noel.

Wien, mal wieder

Wenn ich diesen Blogbeitrag auf Englisch geschrieben hätte, hätte ich ihn vermutlich Vienna the Umpteenth betitelt Ich weiß wirklich nicht mehr, wie oft ich schon in dieser Stadt war. Es sind nicht nur die Philharmoniker, die Oper, der Kaffee, der Wein, die Grantler …

Eigentlich bin ich zum arbeiten in Wien. Wir haben Anfang des Jahres bei mediathoughts eine Reihe von Jugendreiseführern mit unserem Romführer VIVA ROMA bemerkenswert erfolgreich begonnen, die wir jetzt mit einem Buch über Wien fortsetzen werden. Zugegeben, ich hatte ein Wörtchen mitzureden, aber die Zahl an Schulklassen und Jugendgruppen die jedes Jahr die oesterreichische Hauptstadt besuchen ist hoch und Wien ist einfach eine faszinierende Melange von Menschen, Kulturen, Religionen und Geschichte.

© 2018 Thomas Michael Glaw – Gasometer Wien

Ich bin also mal wieder in Wien. Neben den zahlreichen Bildern für den Führer war das Wetter heute auch so typischer wienerisch zwischen Dunst und tiefstehender Sonne angesiedelt, dass ich natürlich ein wenig vom Pfad der Tugend (oder was meine Verlegerin dafür hält) abgewichen bin, um Architektur auf schwarz weiß zu fotografieren.

Wagemutig sind sie nämlich schon die Wiener. Auch wenn sie richtig mit Herzblut über die Umgestaltung ihrer Stadt streiten. Ich verfolge die Streitereien seit langen und mit großem Vergnügen aus der Distanz meiner Wahlheimat München im Falter (wenn Sie mehr wissen wollen gehen Sie mal auf Falter.at).

© 2018 Thomas Michael Glaw – Gasometer Wien

Es gibt faszinierende Aus- und Durchblicke in dieser Stadt. Nicht nur bei den Durchhäusern und Pawlatschen, über die ich hier schon einmal geschrieben habe, sondern auch bei der modernen Architektur – und bei den Überbleibseln. Beispielsweise bei den Flaktürmen aus der deutschen Besatzungszeit, die, von Zwangsarbeitern 1941 erreichtet, hier im dritten Bezirk, wo ich üblicherweise wohne, einfach so neben Kinderspielplätzen ihre martialischen Betonwände in den Himmel recken.

© 2018 Thomas Michael Glaw – Wien Flaktürme im 3. Bezirk

Richtig daneben gegriffen haben die Wiener nur bei der Donau City, von der die UNO City ein Teil darstellt. Abgesehen von einer kleinen, aber interessanten, katholischen Kirche, in der die Messe überwiegend auf englisch gelesen wird, konkurrieren Hochhäuser miteinander, die ohne jegliches Gespür für Dimension, Licht und Wirkung nebeneinander gepflanzt wurden. Nicht nur kann man sie quasi nicht fotografieren, man kann sie eigentlich auch nicht ansehen. Also ich nicht. Ich bekommen von so etwas Magengrimmen.

© 2018 Thomas Michael Glaw – Wien Donau City

Die UNO City ist übrigens nicht zugänglich. Außer mit Sonderausweis oder in meinem Fall mit Akkreditierung und dann auch nur zu besonderen Zeiten und so weiter und so fort. Die Welt bezahlt für die Clowns in ihren teuren Limousinen. Das mindeste wäre, dass sie der Welt erzählen, was sie da eigentlich treiben. Transparenz hilft. Eine bessere Architektur auch. Aber das ist ein anderes Thema.

Über irgendetwas muss man ja granteln hier.

Beim Grünen Veltliner.

 

Simple Food

Fein gehackt und grob gewürfelt. Doch wirklich. Das ist der Titel eines Buches, das im Original The pedant in der Kitchen heißt und von Julian Barnes ist. Ich schätze Julian Barnes sehr. Metroland begleitet mich seit  gefühlt über dreißig Jahren, ähnlich geht es mir mit Flaubert’s Parrot oder The Sound of an Ending. Nein, die Zeit stimmt natürlich nicht. Barnes hat diese Romane deutlich später geschrieben. Trotz sind es Bücher, die man immer wieder aus den mittlerweile, aus Mangel an Platz,  recht schlecht organisierten Bücherregalen zieht, um erneut einen Blick in sie zu werfen. Julian Barnes trifft eine Sprache, die mir entspricht, die schwierig ins Deutsche zu übertragen ist, die subtil witzig ist, aus der man sich nur schwer wieder lösen kann.

© Thomas Michael Glaw

Diese Woche stolperte ich in einem Antiquariat über die deutsche Übersetzung von The Pedant in the Kitchen. Julian Barnes ist ein – in seinen eigenen Worten – spät berufener Koch. Er ist außerdem ein Koch, der dazu neigt Anweisungen in Kochbücher geradezu sklavisch zu befolgen. Meiner Meinung nach ist das ein Rezept für garantiertes Desaster. Rezepte in Kochbüchern stellen – bestenfalls – eine Idee da. Eine Anregung. Eine von vielen Möglichkeiten mit guten Zutaten etwas noch Besseres zu gestalten. Für Julian Barnes sind sie quasi die in Stein gemeißelte Wahrheit.

Ich erwarb das Buch vor allem, um zu sehen, wie die Übersetzerin mit seiner Sprache umgeht. Julian Barnes ist sicher eine Herausforderung und auch diese Übersetzerin ist an ihm gescheitert. Das Buch wirkt, im Vergleich mit dem englischen Original, hölzern.

© Thomas Michael Glaw

Aber ich wollte ja eigentlich auf das Kochen heraus. Wir hatten am Freitag Michael zu Gast, mit dem es galt sein Cambridge C1 Diplom zu feiern und der zudem ein interessanter Gesprächspartner ist. Es war ein Abendessen mit Freund, wie sich Julian Barnes ausdrücken würde. Ich komponierte eine leichte Vorspeise aus Crevetten, Avocado, dem wunderbaren Saft von Orangen aus Amalfi (sorry guys, WIR haben die letzte Kiste bei Ortofrutta gekauft), einem leichten Steakpie (doch, das geht) und einer Nachspeise auf der Basis von gebackenem Ricotta und karamelisierten Pfirsichen. Die Rezepte gibt es bei Gelegenheit auf steaktogether .

Ein paar Flaschen Chateau Brejoux später kam der Freitag, wir waren eigentlich immer noch satt und trotzdem … eine Kleinigkeit wäre jetzt nicht schlecht. Ich inspiziere in solchen Fällen immer gerne – im Gegensatz zu Julian Barnes – Kühlschrank und Speisekammer. Hm … Crevetten, Fenchel, Frühlingszwiebeln … eine halbe Kiste Papardelle von DeCecco. Was könnte man damit machen?

© Thomas Michael Glaw

Nun man könnte Fenchel und Frühlingszwiebeln streifig schneiden und in einer Pfanne in Butter andünsten bis die Zwiebel leicht golden wird (Maillard Reaktion, für die Chemiker unter uns) dann fügt man pro Person fünf bis sechs Crevetten hinzu. In der Zwischenzeit hat man die Papardelle (Tagliatelle gehen auch) al dente gegart. Dann löscht man den Gemüse/Crevetten Mix mit dem Saft einer jener großartigen Orangen ab (Ich weiß, sie sehen gräßlich aus, aber Duft und Geschmack …) und gibt einen Schuss Noilly Prat zu. Klar, das kling jetzt ziemlich versnobt, aber glauben Sie mir, mit Cinzano oder wie das Zeug heißt ruinieren Sie dieses Gericht. Anschließend müssen Sie nur noch die Pasta mit dem Inhalt der Pfanne vermischen, reichlich frischen, schwarzen Pfeffer hinzufügen und: voila.

© Thomas Michael Glaw

Noch eine Bitte zum Schluss: keinen Parmigiano.

Bitte

BITTE.

Brügge oder Zuviel

Wenn man in der Nähe des Kanalsystems wohnt, das Brügge umschließt, bemerkt man zunächst gar nicht so viel von den allgegenwärtigen Touristen. Das eine oder andere Paar geht über die schmalen Bürgersteige, die durch entlang der Hauswände abgestellten Fahrräder noch enger werden. Wenn man eine Wohnung, oder wie wir ein Haus in der Peripherie zeitweise bewohnt, fällt einem Ende August allenfalls auf, dass sich Belgien noch im Sommerferienmodus befindet. Die Bäcker und Metzger sind noch geschlossen. Beim morgendlichen Lauf entlang des Kanals begegnen einem nette Menschen, die lächeln und freundlich grüßen. Katrijn hat mich beim gemeinsamen Stretchen sogar auf einen Kaffee eingeladen. Das rüde Erwachen folgt, wenn man sich nach der ersten, in wunderbarer Ruhe verbrachten Nacht, in Richtung Stadtzentrum aufmacht.

Brügge – © Thomas Michael Glaw 2018

Je näher man diesem kommt, desto zahlreicher werden die Menschen, die irgendwie unorientiert, obwohl meist die Frauen (Mütter, Gefährtinnen, Töchter) die Nase in einen Führer zu haben scheinen, einem nicht näher definierten, magischen Zentrum zustreben.

Die Vielgestalt der Sprachen nimmt zu, die Vielgestalt der Geschäfte nimmt ab. Wer braucht denn wirklich 12 Schokoladengeschäfte (belgische Schoki natürlich) auf einem viertel Quadratkilometer? Zara, Boggi, H&M und wie sie alle heißen, habe ich auch in München. Gewiss, ich hatte damit gerechnet, dass es auch in Brügge ein gerüttelt Maß an Geschäften gibt, die den modernen Touristen bedient. Dass sie die ganze Altstadt in Besitz nehmen, hat mich schon erstaunt. Da ist mir Rom oder Madrid lieber. Zugegeben, diese Städte sind schlicht größer, da fällt es nicht so auf.

Erstaunlich fand ich allerdings auch die hohe Zahl an Leerständen: zum Verkauf oder zur Vermietung anstehende Geschäftsräume, überdies viele leere Galerien. Ob der Verkauf der Seele an den Tourismus vielleicht nur zum Teil geglückt ist?
Wenn dieser Verkauf überhaupt ein Glück sein kann.

Brügge – © Thomas Michael Glaw 2018

Der Begriff des „overtourism“ macht seit Jahren die Runde. Er findet sich in der Neuen Zürcher Zeitung ebenso wie in der Financial Times  und anderen, angesehenen internationalen Publikationen. Ich verband in der Vergangenheit das Phänomen des übermäßigen Tourismus meistens mit Venedig. Diesen Sommer ist mir in Rom bewusst geworden, was der plötzliche Zustrom von 60.000 Menschen – in diesem Fall Jugendliche überwiegend mit den besten Intentionen – für eine Stadt bedeutet.

Durch Brügge lief ein wohlhabendes, internationales Publikum, wir hörten ein dutzend Sprachen oder mehr. Vor jedem auch nur halbwegs alt wirkenden Haus bewegten sich zahllose Handies durch die Luft, um es auf die nicht mehr existierende Platte zu bannen und danach nie mehr anzuschauen. In Navid Kermanis Buch „Entlang der Gräben“ sagt eine Führerin, das Fotografieren der Fresken sei auch ohne Blitz verboten. Wegen der Eiligkeit. Als uneiliger Fotograf, finde ich, dass sie durchaus Recht hat. Auch ein gutes Bild bedarf der Zeit, des Nachdenkens über Licht und Schatten, und gegebenenfalls des Wiederkommens. Aber es geht gar nicht mehr um Bilder. Das Selfie ist zur Gewohnheit geworden. So wie man das Telefon abnimmt, wenn es läutet. Man denkt nicht darüber nach und vergisst es danach schnell. So wie die auf dem Handy gespeicherten Bilder. Außer sie sehen richtig cool aus. Dann kann man sie posten.

Brügge – © Thomas Michael Glaw 2018

Für mich sind die Touristen, die ich in Brügge erlebte, die Totengräber des Reisens. Oberflächlich oder gar nicht informiert, vor allem aber mehr oder minder gar nicht interessiert an den Menschen, die dort leben, an der Sprache, die diese Menschen sprechen, an der Kultur, in der sie leben. Eigentlich möchte man nur ein paar schöne Bilder machen, sagen, dass man da gewesen ist. Belgische Schokolade gekauft hat. Die Geschäfte mit belgischer Spitze waren übrigens meistens leer. Too old school.

Es gibt Orte, wo mich dieser Tourismus nicht überrascht. Im schönen, alten Brügge war das schon der Fall. Vielleicht hatte ich einfach die Anziehungskraft der Stadt unterschätzt, noch mehr allerdings den Einfluss auf das normale Leben im städtischen Kontext. Der Gesichtsausdruck der Brügger, wenn sie sich auf ihren Fahrrädern durch die Menschenmassen schlängeln, ist zwischen genervt und stoisch. Die Stadt scheint vom Tourismus zu leben. Dass dem nicht so ist, bemerkt man erst, wenn man jenseits des Altstadtgürtels unterwegs ist und sieht, wie viel mittelständische Industrie existiert; wenn man durch normale Wohngebiete schlendert und normale Märkte und Geschäfte besucht – wenn sie denn offen waren. Wenn man mit normalen Menschen in der Kneipe am Eck ein Bier trinkt. Dort beginnt man mit drei fehlerbehafteten Sätzen auf Niederländisch ein Gespräch, das sich meist auf Englisch fortsetzt. Und Spaß macht.

Ob die Stadt ihre Seele den omnipräsenten Heuschrecken verkauft hat, die nichts verstehen und alles konsumieren? Die Gastronomiepreise bestärken diesen Eindruck. Das belgische „Nationalgericht“ moules frites habe ich selbst in Paris schon deutlich günstiger gegessen. In Brügge ist es ab 24 Euro pro Person zu haben … Croque Monsieur haben wir zu Preisen zwischen 11 und 16 Euro gesehen. Das ist, nebenbei bemerkt, ein Toast mit Käse. In der Nähe des Place d’Italie in Paris bezahle ich dafür 4,50 Euro.

Brügge – © Thomas Michael Glaw 2018

Der Tourist mag es zahlen, und dennoch ist es der Massentourismus, der zukünftig das Reisen schwierig, wenn nicht gar unmöglich machen wird. Städte, die aus diesem Trend Kapital schlagen wollen, sind zur geschminkten Gesichtslosigkeit verdammt. Sie müssen oberflächlich versuchen, den einzigartigen Charakter ihrer Stadt zu präsentieren, während ihnen hauptsächlich daran gelegen sein muss, die Notwendigkeiten des internationalen Tourismus zu befriedigen. Sie müssen Touristenströme managen, die glauben, sich in einem einzigen großen Disneyland zu bewegen. Und dort ihr Geld verteilen. Das, was die Städte wirklich ausmacht, historisch, gastronomisch, aber auch zwischenmenschlich, bleibt dabei auf der Strecke.

Für mich bedeutet das nichts anderes als Selbstaufgabe, es bedeutet die Transformationen historischer Stadtzentren, zauberhafter Landschaften, zu Themenparks.

Europa, das so voll von realer Geschichte ist, wird nur noch second hand erfahrbar werden. First hand ist zu kompliziert. Vielleicht auch zu ehrlich. Auf alle Fälle zu groß und zu bunt. Wir mögen es heute aber nur einfach und am besten auf einem kleinen Bildschirm.

Ypern

Wenn man durch Flandern reist, fühlt man sich ein wenig wie Damiel und Cassiel, die zwei Engel in Wim Wenders „Der Himmel über Berlin“. Man ist ein Suchender, und die Vergangenheit holt einen immer wieder ein. Wenn man auf schmalen Betonstraßen, die an die Pisten der ehemaligen DDR erinnern, durch die Landschaft rund um Ypern fährt, lässt einen das Schlachten nicht los.

Wie viele Schlachten sind hier geschlagen worden.
Wie viel Blut hat diesen Boden getränkt.

Erinnerungen an Indochina kommen auf, auch an die Stätten der Maya, doch die Schauplätze der beiden Weltkriege, hier in Belgien, stehen emotional einfach näher.

Soldatenfriedhof bei Ypern – © Thomas Michael Glaw 2018

In fast jedem Dorf erinnert ein See von weißen Kreuzen an die anderthalb Millionen jungen Männer, die bei diesem sinnlosen Gemetzel ihr Leben ließen. Aber welcher Krieg ist nicht sinnlos, welche geschlagene Schlacht hat die Menschheit je ein Stück weiter gebracht? Hügel, um die herum zehntausende ihr Leben verloren, liegen heute friedlich im Abendlicht. Allenfalls ein hektischer deutscher Tourist aus Bonn, der, sein Auto im Halteverbot parkend, schnell ein paar Fotos macht, stört die Ruhe.

Ob die Größe der Monumente wirklich der Größe der Opfer entspricht?
Einzelne Obelisken stehen einfach in der Landschaft herum, als ob sie selbst langsam den meist auf ihnen proklamierten Heldenmut in Zweifel ziehen.

© Thomas Michael Glaw 2018

Es sind so viele Namen, gemeißelt in Stein, fein säuberlich mit Rängen und Regimentern, dass die Buchstaben vor meinen Augen zu tanzen beginnen.

So viel Blut. So viele Verwundete, Verstümmelte, im Gaskrieg Erblindete oder erbärmlich Erstickte. Es ist gut, Erinnerungen zu bewahren, aber wenn man an diesen Stellen spazieren geht, wird die Erinnerung selbst zu einer gewaltigen Last.

In Langemarck liegen mehr als 40000 junge Männer. Man nennt den Friedhof auch den Studentenfriedhof. Besoffen von den anfeuernden Worten des letzten deutschen Kaisers starben sie in einer Schlacht, auf die sie nicht vorbereitet waren. Was hätten sie wohl noch vorgehabt? Welche Bücher sind nie geschrieben, welche Lieder nie komponiert, welche Geliebte nie gestreichelt worden?

© Thomas Michael Glaw 2018

Es scheint Frieden zu herrschen. Zumindest für den Moment. Einst heiß umkämpfte Kreuzungen sind zu viel befahrenen Kreisverkehren geworden, Hügel, um deren Besitz jahrelang getötet wurde, ermöglichen nunmehr lediglich einen schönen Blick auf Ypern.

Über allem liegt eine eigenartige Stille.
Eine Stille, die schreit.
Ein ausgetrockneter Boden, der das vergossene Blut kaum zu verhüllen vermag.

In Flanders Fields.

De Lijn

Man spricht das „de lein“ aus, aber es hat mit einer Leine wenig bis gar nichts zu tun. De Lijn heißt auf Niederländisch „die Linie“; in unserem aktuellen Kontext handelt es sich um den Verkehrsverbund in West Flandern. Wie ich darauf komme? Wenn ich mich wirklich langweile, es an Bord kein Handelsblatt gibt, kein Artikel dringend geschrieben werden muss, greife ich zum Lufthansa Magazin. Das soll jetzt nicht abwertend gemeint sein. Die (vermutlich jungen) Damen und Herren, die dieses Magazin publizieren, geben sich redlich Mühe, trotz der Vorgaben ihrer Meister (der Marketing Abteilung der Lufthansa), ein lesbares Magazin zu produzieren. Einmal im Monat lese ich es auch. Man kann von dem Format durchaus etwas lernen für die gegenwärtige Unternehmenskommunikation, die ja auch zu meinen Geschäftsbereichen zählt. Aber ich schweife ab.

Vor einigen Monaten las ich in eben jenem Magazin einen Beitrag über die flämische Küstentram. Es war ein überaus interessanter, gut geschriebener Beitrag. Heute bin ich überzeugt davon, dass es ein „plant“ war. Ein Beitrag, der gegen Bezahlung oder sonstige Vorteile ins Magazin gehievt  wurde. Schön blöd, auf so etwas hereinzufallen, mögen Sie sagen. Nun ja, shit happens, oder politisch korrekter formuliert:  die Geschichte war wirklich gut geschrieben.

Wir machten uns also auf gen Brügge (siehe mein letzter Beitrag), erwarben ein fünf Tage Ticket für „de Lijn“, was zugegebenermaßen günstig ist, downloadeten (ist Deutsch nicht eine wunderbare Sprache) die App (ohne App geht heute gar nichts mehr), und begannen zu planen.

De Lijn – © Thomas Michael Glaw 2018

Das erste, was wir bemerkten, ist, dass die famose App allerlei Alternativen enthält, die in jenem Ticket von „De Lijn“ nicht enthalten sind. So kann man von Brügge nach Ostende zwar durchaus mit dem Bus fahren (De Lijn umfasst nur Busse und die Küstentram – das sagt einem aber niemand). Man braucht dann aber zweieinhalb Stunden. Alternativ kann man auch 4,30 Euro bezahlen und ist in 12 Minuten da. Mit der belgischen Bahn. Genau die Alternative, die einem auch die App von „De Lijn“ vorschlägt.

Am ersten Tag waren wir wagemutig. Wir nahmen den Bus nach Blankeberge. Das Erlebnis war es wert, denn es brachte uns der belgischen Gesellschaft heute ein gutes Stück näher. Mit an Bord dieses Busses waren rund ein Dutzend Schwarzafrikaner, die sich über ihre Belange während der ganzen, etwa 25 Minuten dauernden Fahrt, unterhielten. Man konnte, ob der Lautstärke, nicht weghören. Die Frauen benutzten eine Sprache, mit der ich nicht vertraut war, die Männer sprachen in einer Mischung aus Französisch, Englisch und einer mir nicht bekannten Sprache.  Es war nicht uninteressant, ihnen zuzuhören. Interessanter jedenfalls als den Kindern, die sich einfach ein einer nicht näher zu definierenden Sprache anschrien, Doch wirklich. Anschrien.

Kusttram – © Thomas Michel Glaw 2018

Wir stiegen dann alle gemeinsam in Blankenberge aus. Unsere schwarzafrikanischen Freunde gingen ihres Weges und wir nahmen die nächste Küstentram. Das Bild, das die Lufthansa gezeichnet hatte, verflüchtigte sich schnell. Freiheit. Gute Sicht auf die Küste. Interessante Menschen.

Die Küstentram (Kusttram sprich Linie 0) ist vor allem ein Nahverkehrsmittel für Menschen, die ihren Urlaub an der belgischen Kanalküste verbringen. Wer glaubt, er könne die belgische Küste betrachten, sollte sich besser ganz hinten hinsetzen, denn die meisten Waggons sind mit dieser modernen Werbung beklebt (siehe Rom), die nur eine sehr eingeschränkte Wahrnehmung der Umgebung ermöglichen.

Kusttram – © Thomas Michael Glaw

Außerdem ist die Kusttram voll. Jede einzelne. Egal, von wo sie nach wohin auch immer fahren wollen. Sie ist ein Nahverkehrsmittel, aber bestimmt nicht ein Weg, die belgische Küste zu erfahren. Was es da so zu erfahren gibt, berichte ich in einem anderen Beitrag.

Bitte, fahren Sie nicht wegen der Kusttram nach Flandern. Es mag andere Gründe geben. Die Tram ist keiner. Die App von „de Lijn“ ist eher ein abschreckendes Beispiel, wie man Nahverkehr eher nicht organisieren sollte.

Wanderer kommst du nach Brügge

Nein, es hat keine Schlacht gegeben. Und doch gibt es etwas zu verkünden, davon aber später. Ich wollte schon seit langem einmal die flämische Kusttram, die Küstentrambahn, ausprobieren und auch den „Flanders Fields“ ein wenig nachspüren.

Aber fangen wir am Anfang an. Wir waren zum nachgefeierten fünfundachtzigsten Geburtstag meiner Mutter in Köln und wollten uns von dort aus mit der Bahn nach eben jenem Brügge aufmachen. Wir wollten die Bahn nehmen, denn die Verbindung über Brüssel ist günstig, auch in preislicher Hinsicht, und uns in Flandern mit „de Lijn“, dem dortigen Nahverkehrsverbund, bewegen. Dazu später mehr.

Zunächst einmal erwartete uns am Kölner Hauptbahnhof das übliche DB Chaos. Verspätete Züge, ausgefallene Züge, ausgefallene Entschuldigungen für ausgefallene Züge und Hinweistafeln, die so schnell rotierten, dass man mit dem Lesen nicht mehr nach kam. Züge verschwanden, tauchten wieder auf, verschwanden wieder, wurden geteilt, und aus zehn Minuten Verspätung wurden erst zwanzig, dann vierzig.

Endlich kam der ersehnte ICE, glücklicherweise hatte er auch noch die Originalnummer, so dass unsere Platzkarten noch gültig waren und wir uns nicht um einen Stehplatz im Gang prügeln mussten. Nachdem wir den englischen Enkel einer Hamburger Großmutter zwischen uns platziert hatten, so dass Oma nicht mehr auf dem Koffer sitzen musste, rumpelten wir los Richtung Aachen.

Belgischer Intercity – Erste Klasse

Das interessante an solchen Zugfahrten sind meist die Gespräche, die sich ergeben. Nachdem wir die jeweiligen Verspätungen bis zu diesem Zeitpunkt durchgehechelt hatten (3 Stunden aus Kiel, 2 aus Hamburg) versuchten wir zu ermitteln, ob Großmutter und Enkel noch ihren Eurostar nach London in Brüssel erreichen würden. Die Chancen glichen einer Achterbahnfahrt, da die Verspätungsangaben im Online Portal der Deutschen Bahn ungefähr so schnell wechselten wie die Lottozahlen. Bald war jedoch klar: das wird nichts mit dem Eurostar. Es würde eine nicht geplante Übernachtung in Brüssel werden. Als der Zug sich in Aachen ein wenig leerte, zogen die beiden ins Nachbarabteil um, wo jetzt auch der junge Mann einen komfortablen Sitz hatte. In unserem Abteil wandten sich die Gespräche der Welt der Oper zu, vor allem der mangelnden musikalischen Qualität der Semperoper. Salzburg bekam aber auch sein Fett ab. Geht doch nichts über ein wenig lästern im Erste-Klasse-Abteil.

Dann fingen auch wir an zu rechnen und es begann erneut das Lotteriespiel mit den Verspätungsangaben. Besonders lustig war es in den letzten vierzig Minuten der Reise. Überschreitet man die geplante Ankunftszeit am Endbahnhof, ist für die Bahn der verspätete Zug nämlich angekommen und man bekommt keine Angaben mehr. Am Ende haben wir dann tatsächlich noch den IC nach Brügge erwischt. Trotz sieben Minuten Umstiegszeit und obwohl wir erst auf Gleis 6 erfahren haben, dass es heute von Gleis 16 losgeht. Nein, und ich war nicht einmal außer Atem.

Dieser belgische Intercity erinnerte mich stark an die Regionalzüge im China der achtziger Jahre, mit denen ich von Beijing nach Chengde gefahren bin. Es saßen zwar nicht vier Leute in der zweiten Klasse nebeneinander, sondern nur drei, aber ich war auch schon lange nicht mehr durch halb im freien liegende Verbindungen zwischen Waggons gegangen. Ein wahrhaft nostalgisches Erlebnis. Als wir die erste Klasse gefunden hatten, war auch sie gut besetzt. Es gab allerdings noch eine Vierergruppe, in der nur eine Dame saß, die ihren Koffer so drapiert hatte, dass von Anfang an klar war: meins! Normalerweise lasse ich mich von so etwas nicht abschrecken, aber die Dame hatte auch einen Blick, der mich sehr stark an eine Französischlehrerin erinnerte und nichts Gutes verhieß. Sie war in der Tat Französin. Ich lächelte also freundlich, wuchtete unser beider Koffer in die Kofferablage und setzte mich der Dame gegenüber. Sie schaute kurz von ihrem Buch auf, blickte mich an, wie man vielleicht eine Spinne auf dem frisch polierten Parkett anblickt, und fragte mich auf Französisch (Ha!), ob sie ihren Koffer wegnehmen solle. Ich antwortete in meinem besten Französisch, das sei schon in Ordnung. Was mir noch einen kritischen Blick einbrachte. Wahrscheinlich war sie wirklich Französischlehrerin, und mit meinem subjonctiv stimmte etwas nicht. Die Pointe kommt, wie immer, zum Schluss: als der Schaffner kam, fragte sie ihn etwas auf Französisch; bei den Flamen kommt das nicht so gut an. Bei einer genaueren Inspektion ihrer Fahrkarte stellte sich zudem heraus, dass sie nur über ein Billet zweiter Klasse verfügte. So kommt man, unverdienter Maßen mögen Sie sagen, zu zwei Fensterplätzen.

Und was hat das jetzt alles mit dem Wanderer zu tun, der nach Brügge kommt. Da geht es Ihnen so wie mir, wenn ich als Kind jeden Abend meinen Vater anbettelte: Nein Papa, die Geschichte ist noch nicht zu Ende! Weitererzählen!

Wir verließen also in Brügge unseren Vorortzug, der unter dem Deckmantel eines Intercitys unterwegs war, und es begann zu regnen. Meine unfehlbare Doro hatte den Weg zu unserem Huisje, sprich unsrer Heimstatt für die nächsten Tage, mit 1,7 km oder 23 Minuten ausgemacht. Im Zug hatte es kein Bier gegeben. Ich hatte die Faxen dicke. Es begann heftiger zu regnen.

Brügge – © Thomas Michael Glaw

Der Taxifahrer hatte sein Handwerk offensichtlich in Les Mans gelernt und fuhr uns in unter sieben Minuten in die Gapaardstraat. Natürlich war es jetzt nicht kurz vor acht, wie geplant, sondern eher kurz vor zehn. Und es schüttete. Meine Wenigkeit hatte nur eine dünne Regenjacke eingepackt, die ich üblicherweise zum Laufen anziehe und die nicht mehr so besonders dicht hält. Aber ein Bier, oder auch zwei, und etwas zu essen hätte jetzt schon etwas.

Also keine Müdigkeit gescheut. Der erste Eindruck von Brügge war: hier werden um zehn Uhr die Bürgersteige hochgeklappt. Auf alle Fälle an einem Donnerstag wenn es regnet. Menschen hetzten nach Hause, Kneipen wurden geschlossen, Kellner standen an Theken und schüttelten auf einen fragenden Blick nur mit dem Kopf. Mein Gesicht wurde immer länger und mein Hemd unter der angeblichen Regenjacke immer nasser. Unter dem leeren aber immerhin überdachten Fischmarkt legten wir eine Pause ein. Ein Blick aufs Handy bestätigte, dass die einzige Kneipe weit und breit, die noch offen zu haben schien, Delaney’s Irish Pub war. Also zurück in den Regen. Und, oh Wunder, der Laden hatte noch offen, war proppe voll (klar, alle anderen hatten ja schon zu) und servierte uns ein Brugse Zot (also einen Brügger Narren) in unter fünf Minuten. Ein wenig später schoben sie dann einen eher geschmacklosen Shepherd’s Pie nach, aber er war warm und wir hatten Hunger. Und das Bier war wirklich nicht schlecht.

Außerdem nieselte es auf dem Heimweg nur noch.

Wanderer kommst du nach Brügge, so vergiss also nicht, dass du nach zehn Uhr zum Irish Pub musst.

StadtGründungsBenno

Es ist ein Weilchen her, dass ich mich hier verbreitert habe.
Entschuldigung.
Es gab zu viel zu tun.
Ich habe einen weiteren Krimi veröffentlicht (Mach dir kein Bild) und ein Rom Führer für junge Leute (Viva Roma!) wollte rechtzeitig vor der Reisesaison auf den Weg gebracht werden. Und dann war da noch die DSGVO …

Stadtgründungsfest München 2018 – © Thomas Michael Glaw

Gestern jedoch war ich auf dem Münchner Stadtgründungsfest. Ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht das wievielte es war, aber es war, glauben Sie mir, eine Farce. Seit einiger Zeit feiert die katholische Kirche das Benno Fest, das Fest des Patrons der Stadt München, am selben Tag. Das war der eigentliche Grund, warum wir uns in die Stadt aufgemacht hatten. Um Freunde zu treffen.

Die Rolltreppe am Odeonsplatz spuckte einen aus dem Untergrund in ein unglaublichen Gewurl von Menschen – das ist bei derartigen Events relativ normal. Als ich jedoch die Reihen der Buden durchschritt, begann ich mich zu fragen: was soll das alles, oder vielmehr: was hat das alles mit München zu tun?

Stadtgründungsfest München 2018 – © Thomas Michael Glaw

Selbst wenn man diesem inszenierten Handwerkermarkt noch etwas abgewinnen konnte, spätestens beim Gang durch die Theatinerstraße wurde klar, dass es hier, egal was Oberbürgermeister Reiter salbungsvoll verkündete, nur um eines ging: Kommerz.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin seit dreißig Jahren selbstständig. Ich weiß durchaus, dass man Geld verdienen muss. Aber muss man an so einem Tag wirklich nur Tand verticken? Könnte man nicht Organisationen das Feld bereiten, die dabei sind, einem besseren München den Weg zu bereiten? Interessante Ideen haben? Neues vorstellen wollen?

Handgeschöpftes Briefpapier? Goldschmiede? Alte Bilderrahmen? Puppen?

Also bitte.

Auch die katholische Kirche hat sich keinen wirklichen Gefallen mit der Zusammenlegung beider Festlichkeiten getan. Das Fest am Odeonsplatz zu begehen hatte etwas. Zwar waren die Stände auch früher schon nicht sonderlich innovativ (Tipp: Man könnte die Ausstattung vom Katholikentag zum Teil recyclen …), aber das Fest hatte durchaus etwas familiäres.

Na ja.
Bei einem interkulturellen Training letzten Donnerstag habe ich – wie immer – verkündet, dass die Deutschen viel zu viel kritisieren und jetzt bin ich selbst in diese Falle getappt.

Sei’s drum.
Ab und zu muss man auch mal granteln können 🙂

Aber dann war da doch noch etwas.
Mitten in der Fußgängerzone gab es Stellwände mit der Aufschrift „Bevor ich sterbe“ bzw. auf Englisch „Before I die“., die permanent von alten wie jungen Menschen unterschiedlichster Herkunft umlagert waren.

Stadtgründungsfest München 2018 – © Thomas Michael Glaw

Das, was sich die Menschen vor ihrem Tod noch erhofften, schwankte zwischen berührend und naiv, und doch ließ es die meisten für einen Moment oder länger verharren. Nachdenklich werden. Auch wenn man das natürlich mit dem Handy festhalten musste. Man sollte in dem unglaublich schnellen städtischen Leben mehr solcher Momente haben. Hier gibt es ein weites Feld, um  Menschen zum Nachdenken über ihr Leben zu motivieren.

Und sonst?

Da gab es noch einen Pudel.
Allerdings ohne großartigen Kern, jedoch als gern genutzten Hintergrund für Selfies.

Stadtgründungsfest München 2018 – © Thomas Michael Glaw

Die Ausstellung in der Hypo Kunsthalle zu Faust in der Kunst ist allerdings durchaus sehenswert. Ein Nachdenken über das faustische in unserem Leben ist gerade in diesen Zeiten … ach lassen wir’s. Macht ja doch keiner 🙂

 

 

 

 

Emmaus und Neuperlach

Nein, Emmaus und Neuperlach trennen Welten. Und doch nicht.

Ostermontag.

Ich weiß nicht, wie oft ich über diesen Gang nach Emmaus nachgedacht habe. Ich weiß nicht, mit wie vielen Jugendlichen ich darüber gesprochen habe. Man wird alt.

Nicht erkennen, was ist.

Ostermontag in München Neuperlach © Thomas Michael Glaw

Gehen wir nicht alle auf einem Weg, ohne zu erkennen, wo er wirklich hinführt? Wenn ich das das, was jener Zimmermanns Sohn sagte, ernst nehme, hieße das, ich muss meinen Nächsten lieben. Nur, wer ist das? Die Frau in meinem Wohnblock, der wir unser selbstgebackenes Brot vorbeibringen, wissend, dass sie in der reichen Stadt München am Rande des Existenzminimums lebt? Ist es die Frau drei Häuser weiter, die nur mit ihren Augen sichtbar gemeinsam mit ihren Kindern einkaufen geht? Ich kann die ängstlichen Blicke, die sie im Supermarkt begleiten, verstehen und muss mich immer wieder an die vom Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit erinnern.

Heute Morgen sah ich die Osterbotschaft des neuen bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder. Ein Machwerk, nein, Verzeihung, ein Meisterwerk an politischer Manipulation. Ob er je Leni Riefenstahls berühmten Film „Der Triumph des Willens“ gesehen hat? Mehr entsetzt hat mich allerdings der Kommentar eines alten Freundes, der meinte, ein guter Christ sei man nur, wenn man mindestens Gründonnerstag, Karfreitag und Ostersonntag die Messe besuchte.

Nun, ich glaube, ein guter Christ ist man, wenn man die Werte, die jener Jude namens Jechua, den man später zum Gottes Sohn erklärte, beherzigt. Zentraler Wert ist und bleibt für mich dabei: Liebe deinen Nächsten. Ich saß in der Osternacht (doch ich gehe da immer noch gerne hin, auch wenn es dieses Mal eine rechte Laienspielertruppe war) hinter drei hübschen Mädels mit Schmollmund. Meine Vermutung: sie waren da, weil Mama und/oder Papa es wollten. Sie wussten kaum wohin mit ihren Händen während der Messe. Ich fand das recht amüsant, weil es mir immer wieder die Unzeitgemäßheit unserer eigenen Symbole deutlich macht. Aber wollen wir daran wirklich unseren Glauben fest machen?

Wissen Sie, was mich heute Morgen (zugegeben: ich lese Zeitung, digital und im Bett) noch beeindruckte? Ein Gespräch zwischen Réne Scheu und Peter Sloterdijk in der NZZ. Man mag zu Sloterdijk stehen, wie man will, aber seine Äußerungen sind immer nachdenkenswert. Sie finden sie provozierend? Genau deshalb sind sie nachdenkenswert.

Darf ich zitieren?

„Was wir über die Welt wissen, wissen wir durch die Medien. Medien sind Themen-Umwälzanlagen. Das ist die eine Hälfte der Wahrheit: Weltwissen entsteht überwiegend medial, die sogenannte eigene Erfahrung spielt eine immer kleinere Rolle.“

Da zitiert Sloterdijk Niklas Luhmann, und die Aussage wird mit zunehmendem Alter nicht weniger wahr. Unserer eigenen Erfahrungen zählen immer weniger. Steven Spielberg schrieb gestern, er sähe in Virtual Reality die ultimative Droge. Was zählt ist nicht, was ist, sondern was ich glaube. Ich kann mir das gut vorstellen. Wenn ich mir die Reaktionen vieler meiner Freunde (männlich und weiblich gemeint – ich möchte die Kiste genus vs. sexus hier nicht aufmachen) auf Aussagen im Web betrachte, kann ich nur den Kopf schütteln. Soviel Hass, so beschränkte Weltsicht. Darf ich noch einmal auf Soterdijk zurückkommen?

Die Heftigkeit und Giftigkeit der Invektiven in Europa, ja, im ganzen Westen und, wie man so sagt, im Rest der Welt, hat zugenommen, und zwar in allen Richtungen: links gegen rechts, der rechte Rand gegen den linksliberalen Mainstream, oben gegen unten, Geschlecht gegen Geschlecht, Inländer gegen Ausländer, Alt gegen Jung.

© Thomas Michael Glaw

Die Veränderungen kommen immer schneller, und viele wünschen sich, in der Vergangenheit zu verharren. Einer Vergangenheit, die keinen Deut besser war. Nur langsamer. Wir leben zu kurz, um die großen Veränderungen auf diesem Planeten wirklich erfahren zu können. Wir verweigern uns ihnen. Große Veränderungen waren immer von großen Wanderungsbewegungen begleitet. Die neue Verbindung von Menschen und Ideen hat immer zu dem beigetragen, was wir heute idiotischerweise Fortschritt nennen.

Fortschreiten von was?

Wir gehen auf etwas zu, das wir noch nicht kennen. Nur gemeinsam werden wir in einer besseren Zukunft ankommen. Das christliche Ideal erscheint mir dafür nicht völlig ungeeignet. Auch ohne drei Gottesdienste an Ostern zu besuchen.