Wenn man in der Nähe des Kanalsystems wohnt, das Brügge umschließt, bemerkt man zunächst gar nicht so viel von den allgegenwärtigen Touristen. Das eine oder andere Paar geht über die schmalen Bürgersteige, die durch entlang der Hauswände abgestellten Fahrräder noch enger werden. Wenn man eine Wohnung, oder wie wir ein Haus in der Peripherie zeitweise bewohnt, fällt einem Ende August allenfalls auf, dass sich Belgien noch im Sommerferienmodus befindet. Die Bäcker und Metzger sind noch geschlossen. Beim morgendlichen Lauf entlang des Kanals begegnen einem nette Menschen, die lächeln und freundlich grüßen. Katrijn hat mich beim gemeinsamen Stretchen sogar auf einen Kaffee eingeladen. Das rüde Erwachen folgt, wenn man sich nach der ersten, in wunderbarer Ruhe verbrachten Nacht, in Richtung Stadtzentrum aufmacht.
Je näher man diesem kommt, desto zahlreicher werden die Menschen, die irgendwie unorientiert, obwohl meist die Frauen (Mütter, Gefährtinnen, Töchter) die Nase in einen Führer zu haben scheinen, einem nicht näher definierten, magischen Zentrum zustreben.
Die Vielgestalt der Sprachen nimmt zu, die Vielgestalt der Geschäfte nimmt ab. Wer braucht denn wirklich 12 Schokoladengeschäfte (belgische Schoki natürlich) auf einem viertel Quadratkilometer? Zara, Boggi, H&M und wie sie alle heißen, habe ich auch in München. Gewiss, ich hatte damit gerechnet, dass es auch in Brügge ein gerüttelt Maß an Geschäften gibt, die den modernen Touristen bedient. Dass sie die ganze Altstadt in Besitz nehmen, hat mich schon erstaunt. Da ist mir Rom oder Madrid lieber. Zugegeben, diese Städte sind schlicht größer, da fällt es nicht so auf.
Erstaunlich fand ich allerdings auch die hohe Zahl an Leerständen: zum Verkauf oder zur Vermietung anstehende Geschäftsräume, überdies viele leere Galerien. Ob der Verkauf der Seele an den Tourismus vielleicht nur zum Teil geglückt ist?
Wenn dieser Verkauf überhaupt ein Glück sein kann.
Der Begriff des „overtourism“ macht seit Jahren die Runde. Er findet sich in der Neuen Zürcher Zeitung ebenso wie in der Financial Times und anderen, angesehenen internationalen Publikationen. Ich verband in der Vergangenheit das Phänomen des übermäßigen Tourismus meistens mit Venedig. Diesen Sommer ist mir in Rom bewusst geworden, was der plötzliche Zustrom von 60.000 Menschen – in diesem Fall Jugendliche überwiegend mit den besten Intentionen – für eine Stadt bedeutet.
Durch Brügge lief ein wohlhabendes, internationales Publikum, wir hörten ein dutzend Sprachen oder mehr. Vor jedem auch nur halbwegs alt wirkenden Haus bewegten sich zahllose Handies durch die Luft, um es auf die nicht mehr existierende Platte zu bannen und danach nie mehr anzuschauen. In Navid Kermanis Buch „Entlang der Gräben“ sagt eine Führerin, das Fotografieren der Fresken sei auch ohne Blitz verboten. Wegen der Eiligkeit. Als uneiliger Fotograf, finde ich, dass sie durchaus Recht hat. Auch ein gutes Bild bedarf der Zeit, des Nachdenkens über Licht und Schatten, und gegebenenfalls des Wiederkommens. Aber es geht gar nicht mehr um Bilder. Das Selfie ist zur Gewohnheit geworden. So wie man das Telefon abnimmt, wenn es läutet. Man denkt nicht darüber nach und vergisst es danach schnell. So wie die auf dem Handy gespeicherten Bilder. Außer sie sehen richtig cool aus. Dann kann man sie posten.
Für mich sind die Touristen, die ich in Brügge erlebte, die Totengräber des Reisens. Oberflächlich oder gar nicht informiert, vor allem aber mehr oder minder gar nicht interessiert an den Menschen, die dort leben, an der Sprache, die diese Menschen sprechen, an der Kultur, in der sie leben. Eigentlich möchte man nur ein paar schöne Bilder machen, sagen, dass man da gewesen ist. Belgische Schokolade gekauft hat. Die Geschäfte mit belgischer Spitze waren übrigens meistens leer. Too old school.
Es gibt Orte, wo mich dieser Tourismus nicht überrascht. Im schönen, alten Brügge war das schon der Fall. Vielleicht hatte ich einfach die Anziehungskraft der Stadt unterschätzt, noch mehr allerdings den Einfluss auf das normale Leben im städtischen Kontext. Der Gesichtsausdruck der Brügger, wenn sie sich auf ihren Fahrrädern durch die Menschenmassen schlängeln, ist zwischen genervt und stoisch. Die Stadt scheint vom Tourismus zu leben. Dass dem nicht so ist, bemerkt man erst, wenn man jenseits des Altstadtgürtels unterwegs ist und sieht, wie viel mittelständische Industrie existiert; wenn man durch normale Wohngebiete schlendert und normale Märkte und Geschäfte besucht – wenn sie denn offen waren. Wenn man mit normalen Menschen in der Kneipe am Eck ein Bier trinkt. Dort beginnt man mit drei fehlerbehafteten Sätzen auf Niederländisch ein Gespräch, das sich meist auf Englisch fortsetzt. Und Spaß macht.
Ob die Stadt ihre Seele den omnipräsenten Heuschrecken verkauft hat, die nichts verstehen und alles konsumieren? Die Gastronomiepreise bestärken diesen Eindruck. Das belgische „Nationalgericht“ moules frites habe ich selbst in Paris schon deutlich günstiger gegessen. In Brügge ist es ab 24 Euro pro Person zu haben … Croque Monsieur haben wir zu Preisen zwischen 11 und 16 Euro gesehen. Das ist, nebenbei bemerkt, ein Toast mit Käse. In der Nähe des Place d’Italie in Paris bezahle ich dafür 4,50 Euro.
Der Tourist mag es zahlen, und dennoch ist es der Massentourismus, der zukünftig das Reisen schwierig, wenn nicht gar unmöglich machen wird. Städte, die aus diesem Trend Kapital schlagen wollen, sind zur geschminkten Gesichtslosigkeit verdammt. Sie müssen oberflächlich versuchen, den einzigartigen Charakter ihrer Stadt zu präsentieren, während ihnen hauptsächlich daran gelegen sein muss, die Notwendigkeiten des internationalen Tourismus zu befriedigen. Sie müssen Touristenströme managen, die glauben, sich in einem einzigen großen Disneyland zu bewegen. Und dort ihr Geld verteilen. Das, was die Städte wirklich ausmacht, historisch, gastronomisch, aber auch zwischenmenschlich, bleibt dabei auf der Strecke.
Für mich bedeutet das nichts anderes als Selbstaufgabe, es bedeutet die Transformationen historischer Stadtzentren, zauberhafter Landschaften, zu Themenparks.
Europa, das so voll von realer Geschichte ist, wird nur noch second hand erfahrbar werden. First hand ist zu kompliziert. Vielleicht auch zu ehrlich. Auf alle Fälle zu groß und zu bunt. Wir mögen es heute aber nur einfach und am besten auf einem kleinen Bildschirm.