Wenn ich das Wort Promenade höre, muss ich zunächst immer an einen miefigen Saal eines Kaffs in der Nähe von Heidelberg denken, wo meine erste Tanzstunde stattfand. Der Tanzlehrer pflegte es bei einem bestimmten Tanz, ich glaube es war der langsame Walzer, mit Stentorstimme zu proklamieren.
Die Promenade, über die ich heute schreibe, ist stiller und doch sehr lebendig. Um den alten Stadtkern von Münster, entlang des ehemaligen Befestigungswall, gibt es einen grünen Ring, der von vielen Menschen zum Spazierengehen oder auch als Radautobahn genutzt wird. Ich bin dort auch schon gelaufen, obwohl mir der geografisch näher gelegene Nordpark, der eigentlich Stadtpark Wienburg heißt, lieber ist. Ich bin gerne allein, wenn ich laufe.
Wenn man an einem spätsommerlichen Sonntag die Promenade entlang läuft, fällt es leicht, den Gedanken freien Lauf zu lassen. Man sieht unzählige Menschen, man hört Gesprächsfetzen, man fühlt sich an die großen Erzähler des 19. und 20 Jahrhunderts erinnert … Dickens, Mann, Proust. Wenn man flaniert, wie es einst hieß, wird man oft überholt und hat am Ende eines zweistündigen Spaziergangs unzählige Gesprächsfetzen im Kopf. Eine alte Frau, die einer desinteressierten Tochter ihr Leid klagt, junge Väter, die verzweifelt ihrem Bildungsauftrag nachzukommen versuchen („Das ist eine Buche“), schweigsame Alte am Stock, aber auch viele Menschen, die an diesem Tag eine wunderbare Heiterkeit verströmen.
Unser Gespräch drehte sich im Literatur, um das Wesen des Romans, um den Sinn der Fiktion. Persönlich glaube ich nicht an die politische Wirksamkeit fiktionaler Literatur. Literatur, die mit dem Impetus geschrieben wurde, die Welt zu verändern, ist sehr oft- auch wenn hochgelobt – nur mittelmäßig. Selbst Bert Brecht soll die gesellschaftliche Wirkung seiner Dramen bezweifelt haben. Das Maß, das an einen Roman angelegt werden sollte, ist, da bin ich mit Marcel Ranicki völlig einig, ob er eine Geschichte erzählt oder nicht. Als Fotograf interessierte mich an diesem wunderbaren Sonntagvormittag allerdings am meisten das stetig wechselnde Licht und die sichtbar werden Details. Ein überfüllter Mülleimer kann ebenso Zeugnis ablegen von unserer verschwenderischen Zeit, wie einige Stühle in einem Garten von unserer Sehnsucht nach Muße zeugen.
Die kleine Säule brachte unser Gespräch zurück auf die Literatur des vergangenen Jahrhunderts. Der Zauberberg, die Buddenbrooks, die Suche nach der verlorenen Zeit … Wenn ich mir die moderne Literatur anschaue, frage ich mich, wer einmal die Geschichte unsere Zeit adäquat erzählen wird. So, dass Menschen in sie eintauchen, in ihr versinken wollen. Ein morgendlicher Spaziergang in Münster lässt zumindest ab und zu die Zeit, gefühlt, ein wenig langsamer verstreichen. Er unterhält sogar, wenn man versucht, die Geschichten, die die Menschen um einen herum erzählen, weiterzuspinnen.