Kleinseite in Grün

Man durchschreitet einen kleinen Park am Ufer der Vltava, der Moldau, wenn man sich vom flussnahen Teil der Kleinseite in Richtung Laurenziberg aufmacht. Dabei kommt man am Denkmal von Josef Dobrovský vorbei. Meiner Meinung nach sollte dieses Denkmal eigentlich auf einer Brücke stehen. Nicht auf der Karlův most, der Karlsbrücke, auf der sich derzeit die Touristen gegenseitig beim Knipsen im Weg stehen, dazu wäre er zu bescheiden gewesen. Aber eine andere der vielen Prager Moldaubrücken schiene mir angemessen. Dobrovský war wirklich ein Brückenbauer zwischen der deutschen und der tschechischen Sprache und Kultur. Er hat übersetzt, eine erste tschechische Grammatik verfasst und gemeinsam mit vielen anderen die Wiedergeburt der tschechischen Sprache betrieben.

Prag – an der Moldau © Thomas Michael Glaw

Wenn man die geschäftige Ujezd überquert hat, betritt man den größten Park der Prager, den die deutsch sprechenden Prager Laurenziberg nannten, und der heute auf Tschechisch Petřínské sady heißt. Man kann es nun wie die meisten Touristen machen und sich mindestens eine halbe Stunde anstellen, um sich von einer Zahnradbahn auf den Berg – na ja, aus bayerischer Sicht bestenfalls ein Hügel – hinaufziehen zu lassen, oder aber man spaziert langsam hinauf, verharrt bei der einen oder anderen schattigen, und, wie in Europa üblich, mit sinnlosen Graffiti verzierten Bank und denkt darüber nach, ob es wohl hier war, wo Franz Kafka den einen oder anderen Brief geschrieben hat oder einfach saß und nachdachte.

Blick vom Prager Laurenziberg – © 2017 Thomas Michael Glaw

Dieser Park hält, sofern man sich von der Bergstation der Zahnradbahn fernhält, tatsächlich, was er verspricht: ein wenig Stille im hektischen Treiben der Prager Altstadt. Prag verfügt über viele schöne Parks, aber dieser ist der einzige, der in der Nähe der Altstadt ist und zudem eine gewisse literarische Bedeutung hat. Beim Gang durch das Grüne eröffnen sich immer wieder Blicke auf die goldenen Dächer von Prag, vor allem, wenn man am Spätnachmittag oder Abend unterwegs ist und die Sonne richtig steht.

Auf dem Weg in Richtung der Ewigen Stiege (heute heißt sie petřínské schody), die uns unterhalb des Klosters Strahov in Richtung der Nerudova führt, kommt man an einem zum Kiosk verwandelten Gartenhaus vorbei. In Deutschland hätten die Behörden dieses Ding längst geschlossen. Hygiene, Umweltschutz .. der Gründe wären sicher viele. So aber kann man, fast wie einst bei Tante Erna, auf einer mit allerlei Kitsch, vom Plastikschwan, über ebensolche Ostereier bis hin zu Zwergen, dekorierten Gartenterrasse sitzen, den Blick auf die Stadt genießen, ein kühles Staropramen zwar vom Fass, aber aus einem Plastikbecher, schlürfen (wenn ich das Schild richtig verstanden habe, muss man sich Glasgläser selbst mitbringen) und bei Hunger eine Kolbasa mit frischem Kren verzehren.

Rast – © Thomas Michael Glaw

Betrieben von einem Tante Erna Duplikat und ihrem Göttergatten. Er zapft und kassiert, sie kocht und brät. Und wenn gerade keiner klingelt, sitzen sie im Garten und lösen Kreuzworträtsel oder diskutieren den neuesten Einkaufsprospekt. Ein paar hundert Meter weiter gelangt man aus einem schattigen Waldstück zur Ewigen Stiege, die man vorsichtig herabsteigen sollte. Warum vorsichtig? Nun, sie ist mit kleinen Pflastersteinen gepflastert, und einige haben anscheinend Liebhaber gefunden oder wurden für den Fall eines anstehenden Protestmarsches schon einmal vorsorglich eingesteckt.

Die ewige Stiege – © Thomas Michael Glaw

Bevor man am ehemaligen italienischen Hospital, dem heutigen italienischen Kulturinstitut, vorbeigeht geht, taucht auf der rechten Seite die deutsche Botschaft auf. Die meisten werden es erst merken, wenn sie vor dem durchaus imposanten Portal stehen. Darf ich Sie zu einem Blick auf einen wahrhaft historischen Ort verleiten? Kehren Sie um, benutzen Sie bei der ersten Gelegenheit einen Durchgang in der Mauer, lassen sie den Spielplatz links liegen und gehen Sie einen etwas holprigen Weg links hinter. Nachdem der Herr Botschafter sein Privatleben zu schätzen weiß, ist der größte Teil des Botschaftsgartens nicht einsehbar, gar zu dicht hat Mutter Natur den Blätterwald ausgestattet.

Deutsche Botschaft Prag – © Thomas Michael Glaw

An einer Stelle jedoch, von der aus man das Botschaftsgebäude gut von hinten sehen kann, stehen Sie vor einem Gitter und sehen den Balkon, von dem aus Hans Dietrich Genscher rief: „Liebe Landsleute, wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“ Der Rest der Ansprache ging im Jubel unter. Wer das damals erlebt hat, bekommt schon ein wenig Gänsehaut, wenn er da steht. Und wenn Sie sich Sorgen um die barocke Buchsbaumhecke auf dem Foto machen: ein Schild verkündet, dass sich nicht um mangelnde Pflege, sondern um einen Pilz handele, und man sich schon darum kümmere.

Anschließend gingen wir weiter zur ehemaligen Sporer Straße, die heute nach Jan Neruda benannt ist, dem bereits zitierten Autor der Kleinseitner Geschichten und vieler anderer Romane und Erzählungen. Mein Cicerone (Herr Dömling) schrieb in seinem Führer von einer ruhigen Straße, die die Erinnerung an das alte Prag lebendig werden lässt. Wenn wir im Lateinunterricht wieder einmal einen Seneca, Cicero oder Livius fürchterlich verbogen hatten, pflegte mein alter Lateinlehrer zu sagen „Si tacuisses“, was so viel heißt „Ach, wenn du doch nur geschwiegen hättest.“ Das möchte man hier auch dem Ciceronen zurufen.

Nerudova – © 2017 Thomas Michael Glaw

Die Nerudova quirlte nur so von Touristen. Nerudas Geburtshaus wird quasi gar nicht wahrgenommen, und das alte Prag ist zwischen Imbissbuden, Tandläden und original Prager Trdelníkbuden im Dutzend ausgezeichnet verborgen.

Was bleibt von der Kleinseite?

Mit viel Fantasie und Konzentration ein Eindruck davon, wie sich die katholische Gegenreformation mit Kirche und Habsburgs treuen Adligen in barockem Prunk festsetze und zudem ein wunderbarer Spaziergang im grünen Herzen Prags mit einigen herrlichen Momenten. Die Geschichte von dem Hund in dem Brunnen habe ich noch gar nicht erzählt; aber es sollen ja auch keine Kleinseitner Geschichten werden.

Kleinseite

Ich habe eine Schwäche für alte Reiseführer. Ja, auch die alten Baedeker, vor allem aber die alten Merianhefte, an denen man wunderbar verfolgen kann, wie sich Städte zum Tourismus hin entwickeln, und wie sich die Wahrnehmung des Publikums zu Städten, Ländern und Regionen verändert. Auch die Merian Redaktion muss ihr Produkt verkaufen, auch sie ist nicht vor Trends gefeit, ja, auch sie muss Trends bedienen, um „im Geschäft zu bleiben“. Aus meiner Sicht: Leider. Das literarische bleibt mehr und mehr auf der Strecke und weicht dem schnöden Massenprodukt.  Reiseführer für das 21. Jahrhundert, in dem sich das Selfie zum wichtigsten Element der Reise entwickelt, müssen einfach nur geile Locations aufzeigen. Die dann, sobald als Buch und als e-paper publiziert, bald gar nicht mehr so geil sind.

Prag – Kleinseitner Ring – © 2017 Thomas Michael Glaw

Wann immer in Prag mehrere Jugendliche, Junggebliebene, Ältere aus der Straßenbahn ausstiegen und der Platz halbwegs historisch aussah, wurde zunächst einmal fotografiert. Zunächst ein Rundschlag auf alles, was da so herum stand, dann ausgewählte Individuen vor dem, was da so herum stand. Was da so herum stand, schien niemand wirklich zu wissen oder zu interessieren, Hauptsache es sah alt und cool aus. Die Tatsache, das Fotografie auch etwas mit Sonne, Licht und Schatten zu tun hat, ist weitestgehend in den Hintergrund gerückt. Aber daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt.

Zum Geburtstag hatte ich ein wunderbares Buch aus dem Insel Verlag bekommen „Prag. Literarische Spaziergänge“. Nach meinem etwas kryptische Titel wissen Sie nunmehr vermutlich, wo wir uns befinden: in der goldenen Stadt. Der Autor des Buches, Wolfgang Dömling, ist nicht nur ein außergewöhnlich guter Kenner der deutsch – tschechischen Literatur, er ist zudem ein überaus interessanter Erzähler. Leider scheint er auch er Träumer zu sein. Nachdem ich selbst aber auch gerne träume, ist das eine verzeihliche Sünde.

Prag – Malteserplatz – © 2017 Thomas Michael Glaw

Bei meinem letzten Besuch in Prag hatte ich mich vor allem – neben Holešovice, dem Viertel, wo ich üblicherweise wohne – in der Altstadt aufgehalten. Dieses Mal wollte ich die Kleinseite, tschechisch Malá Strana, kennen lernen. Es ist das Viertel auf der anderen Seite der Vltava, der Moldau, das Viertel, wo auf dem Kleinseitner Ring, dem Malostranské náměstí, nicht nur dereinst Pranger und Galgen standen, sondern sich auch die katholische Gegenreformation in ihrer ganzen barocken Pracht entfaltete, und sich zudem ein Großteil des deutsch-tschechischen literarischen Lebens im neunzehnten Jahrhundert abspielte.

Außerdem hatte ich dem Führer entnommen, dass es dort wohl weniger Touristen gäbe. Natürlich ist man selbst auch immer Tourist, aber man ist doch auch Suchender. Man möchte Verlorenem nachspüren, vielleicht, hier in Prag, einen Punkt finden, wo Kafka träumte, Max Brod spazieren ging, Jan Neruda seinen wunderbaren „Kleinseitner Geschichten“ auf die Spur kam, oder aber Svatopluk Čech den „Wahrhaftigen Ausflug des Herrn Broucek auf den Mond“ konzipierte. Noch Detlev von Liliencron hielt die Kleinseite für den stillsten Stadtteil Prags, der Autor meines Führers stimmt ihm zu. „Einer der bezaubersten – und bis heute stillsten – Plätze im alten Prag ist der an den Malteserplatz anschließende Großprioratsplatz (Velkopřevorské náměstí).“

Prag – Großprioratsplatz – © Thomas Michael Glaw

Ganz ehrlich, bei unserem Besuch im ersten Teil der Kleinseite, einem abendlichen Spaziergang vom Kleinseitner Ring bis nach říční, sind wir eigentlich nur von Menschen umspült worden. In wenigen Momenten war durchaus Geschichte fühlbar, ebenso wie die Abwesenheit jeglichen Geschichtsbewusstseins bei den meisten Menschen um und herum. Sie halten diese Feststellung für arrogant? Ich kann es nicht ändern. Sie spiegelt meine Eindrücke wieder. Eindrücke aus einem ehedem stillen Viertel, das jegliche Stille verloren hatte. Eindrücke aus einem Viertel, in dem Geschichte nur noch wie Dekoration wirkt, durch das Touristen in nachgebauten Autos aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert chauffiert werden.

Beinahe hätte ich es vergessen. Mitten im unteren Teil dieses Viertels befindet sich natürlich auch die John Lennon Wall. Nun raten Sie mal, wo sich die größte Menschenansammlung befand. Genau. Vielleicht erschließt sich dieses Bauwerk ja eher dem heutigen Verständnis, als die barocken Paläste der katholischen Gegenreformation, die hier sonst so herum stehen.

Ich bin ehrlich gespannt auf den Laurenziberg, auf tschechisch Petřín, und den oberen Teil der Kleinseite. Vielleicht findet sich ja dort eine Bank, wo man in Ruhe eine Geschichte von Jan Neruda oder einen Tagebucheintrag Kafkas lesen kann.

Fachwerk

Fachwerkhäuser.

In Großbritannien nennt man das Tudor Style.

Weiße Flächen, gebrochen durch dunkle Balken.

Es hat immer etwas altertümliches. Menschen, die in der Vergangenheit ruhen.  Es gab tatsächlich eine Zeit, in der solche Bilder einen Bezug zur Geschichte herstellten. Heute stellen sie allenfalls einen Bezug zu einer Marketingkampagne her. Tourismusmarketing.

© 2017 Thomas Michael Glaw

Ich war auf dem Weg zu meiner Mutter, als ich durch die wenigen, verbliebenen Straßen in der Altstadt eines badischen Städtchens stromerte. Wir wollten eigentlich eine Kleinigkeit essen. Es war kurz vor acht am Abend. Das erste Gasthaus war … geschlossen. Also nicht wirklich. Es gab keine Schilder, es gab auch nichts im Web. Aber es war offensichtlich. Es war zu. Wie weit kann man sich von der Realität des Lebens im 21. Jahrhundert entfernen?

Nun ja, es gab gegenüber noch ein Gasthaus. Als wir hinein gingen, erklärte mir der Besitzer, dass er vor zwanzig Minuten die Küche geschlossen hätte, weil sowieso niemand käme. Es war kurz vor  halb acht. Nun ja, eine deutsche Kleinstadt. Der Besitzer meinte, „Klaus, nebenan“ hätte noch offen. Der Ratskeller. Wo früher mein Mathelehrer versumpft ist. Vier Männer spielen lautstark ein obskures Kartenspiel mit deutschem Blatt, an einem weiteren Tisch ergingen sich ein halbes Dutzend bereits ziemlich angeheiterter Männer und Frauen lautstark über ihre Nachbarn. Davon abgesehen: die Maultaschen waren ausgezeichnet. Der Wein auch.

© 2017 Thomas Michael Glaw

Beim Gang zurück ins Hotel durch die Altstadt sahen wir viele fast leere Kneipen. Einzelne Männer, die eine oder andere Frau. Es wird einem bewusst, wie leer das Leben in Deutschlands Kleinstädten ist. Am lebendigsten war ein Tisch mit Männern, die Arabisch aus dem Maghreb sprachen.

Beim Weg durch die abendliche Stadt am folgenden Tag, bei einem Glas Wein in einem Lokal, hörten wir Belanglosigkeiten, sahen bunte Farben, gefärbte Haare. Die Nacht enthüllte, nichtsdestotrotz, einige Perspektiven, die wir in der morgendlichen Sonne noch einmal betrachten wollten.

© 2017 Thomas Michael Glaw

Der Morgenspaziergang, bei dem auch diese Bilder entstanden, zeigt zum einen die graphische Schönheit dieser Strukturen, zum anderen aber auch die Leere der Stadt. Wenige Menschen waren auf dem Weg in die Kirche an diesem Sonntag morgen, wenige Menschen waren überhaupt unterwegs. Der Stadt fehlte das städtische Leben. Sagte man nicht einstmals: „Stadtluft macht frei“? Die Stadtluft dieser Kleinstädte finde ich eher erdrückend. Hier passiert nichts. Und was auch immer passiert, dient keinem wirklichen Zweck. Bürgerliches Leben findet nicht statt. Das Leben schleicht dahin, so wie der Bach, der langsam durch den Ort zieht. Kurz vor dem Versiegen. Nur dass die Bürger wahrscheinlich vor dem Fernseher versiegen werden.

Ich war ganz ehrlich froh, zu gehen. So wie ich das immer bin.

Aber die Perspektiven waren schön.