Man durchschreitet einen kleinen Park am Ufer der Vltava, der Moldau, wenn man sich vom flussnahen Teil der Kleinseite in Richtung Laurenziberg aufmacht. Dabei kommt man am Denkmal von Josef Dobrovský vorbei. Meiner Meinung nach sollte dieses Denkmal eigentlich auf einer Brücke stehen. Nicht auf der Karlův most, der Karlsbrücke, auf der sich derzeit die Touristen gegenseitig beim Knipsen im Weg stehen, dazu wäre er zu bescheiden gewesen. Aber eine andere der vielen Prager Moldaubrücken schiene mir angemessen. Dobrovský war wirklich ein Brückenbauer zwischen der deutschen und der tschechischen Sprache und Kultur. Er hat übersetzt, eine erste tschechische Grammatik verfasst und gemeinsam mit vielen anderen die Wiedergeburt der tschechischen Sprache betrieben.
Wenn man die geschäftige Ujezd überquert hat, betritt man den größten Park der Prager, den die deutsch sprechenden Prager Laurenziberg nannten, und der heute auf Tschechisch Petřínské sady heißt. Man kann es nun wie die meisten Touristen machen und sich mindestens eine halbe Stunde anstellen, um sich von einer Zahnradbahn auf den Berg – na ja, aus bayerischer Sicht bestenfalls ein Hügel – hinaufziehen zu lassen, oder aber man spaziert langsam hinauf, verharrt bei der einen oder anderen schattigen, und, wie in Europa üblich, mit sinnlosen Graffiti verzierten Bank und denkt darüber nach, ob es wohl hier war, wo Franz Kafka den einen oder anderen Brief geschrieben hat oder einfach saß und nachdachte.
Dieser Park hält, sofern man sich von der Bergstation der Zahnradbahn fernhält, tatsächlich, was er verspricht: ein wenig Stille im hektischen Treiben der Prager Altstadt. Prag verfügt über viele schöne Parks, aber dieser ist der einzige, der in der Nähe der Altstadt ist und zudem eine gewisse literarische Bedeutung hat. Beim Gang durch das Grüne eröffnen sich immer wieder Blicke auf die goldenen Dächer von Prag, vor allem, wenn man am Spätnachmittag oder Abend unterwegs ist und die Sonne richtig steht.
Auf dem Weg in Richtung der Ewigen Stiege (heute heißt sie petřínské schody), die uns unterhalb des Klosters Strahov in Richtung der Nerudova führt, kommt man an einem zum Kiosk verwandelten Gartenhaus vorbei. In Deutschland hätten die Behörden dieses Ding längst geschlossen. Hygiene, Umweltschutz .. der Gründe wären sicher viele. So aber kann man, fast wie einst bei Tante Erna, auf einer mit allerlei Kitsch, vom Plastikschwan, über ebensolche Ostereier bis hin zu Zwergen, dekorierten Gartenterrasse sitzen, den Blick auf die Stadt genießen, ein kühles Staropramen zwar vom Fass, aber aus einem Plastikbecher, schlürfen (wenn ich das Schild richtig verstanden habe, muss man sich Glasgläser selbst mitbringen) und bei Hunger eine Kolbasa mit frischem Kren verzehren.
Betrieben von einem Tante Erna Duplikat und ihrem Göttergatten. Er zapft und kassiert, sie kocht und brät. Und wenn gerade keiner klingelt, sitzen sie im Garten und lösen Kreuzworträtsel oder diskutieren den neuesten Einkaufsprospekt. Ein paar hundert Meter weiter gelangt man aus einem schattigen Waldstück zur Ewigen Stiege, die man vorsichtig herabsteigen sollte. Warum vorsichtig? Nun, sie ist mit kleinen Pflastersteinen gepflastert, und einige haben anscheinend Liebhaber gefunden oder wurden für den Fall eines anstehenden Protestmarsches schon einmal vorsorglich eingesteckt.
Bevor man am ehemaligen italienischen Hospital, dem heutigen italienischen Kulturinstitut, vorbeigeht geht, taucht auf der rechten Seite die deutsche Botschaft auf. Die meisten werden es erst merken, wenn sie vor dem durchaus imposanten Portal stehen. Darf ich Sie zu einem Blick auf einen wahrhaft historischen Ort verleiten? Kehren Sie um, benutzen Sie bei der ersten Gelegenheit einen Durchgang in der Mauer, lassen sie den Spielplatz links liegen und gehen Sie einen etwas holprigen Weg links hinter. Nachdem der Herr Botschafter sein Privatleben zu schätzen weiß, ist der größte Teil des Botschaftsgartens nicht einsehbar, gar zu dicht hat Mutter Natur den Blätterwald ausgestattet.
An einer Stelle jedoch, von der aus man das Botschaftsgebäude gut von hinten sehen kann, stehen Sie vor einem Gitter und sehen den Balkon, von dem aus Hans Dietrich Genscher rief: „Liebe Landsleute, wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“ Der Rest der Ansprache ging im Jubel unter. Wer das damals erlebt hat, bekommt schon ein wenig Gänsehaut, wenn er da steht. Und wenn Sie sich Sorgen um die barocke Buchsbaumhecke auf dem Foto machen: ein Schild verkündet, dass sich nicht um mangelnde Pflege, sondern um einen Pilz handele, und man sich schon darum kümmere.
Anschließend gingen wir weiter zur ehemaligen Sporer Straße, die heute nach Jan Neruda benannt ist, dem bereits zitierten Autor der Kleinseitner Geschichten und vieler anderer Romane und Erzählungen. Mein Cicerone (Herr Dömling) schrieb in seinem Führer von einer ruhigen Straße, die die Erinnerung an das alte Prag lebendig werden lässt. Wenn wir im Lateinunterricht wieder einmal einen Seneca, Cicero oder Livius fürchterlich verbogen hatten, pflegte mein alter Lateinlehrer zu sagen „Si tacuisses“, was so viel heißt „Ach, wenn du doch nur geschwiegen hättest.“ Das möchte man hier auch dem Ciceronen zurufen.
Die Nerudova quirlte nur so von Touristen. Nerudas Geburtshaus wird quasi gar nicht wahrgenommen, und das alte Prag ist zwischen Imbissbuden, Tandläden und original Prager Trdelníkbuden im Dutzend ausgezeichnet verborgen.
Was bleibt von der Kleinseite?
Mit viel Fantasie und Konzentration ein Eindruck davon, wie sich die katholische Gegenreformation mit Kirche und Habsburgs treuen Adligen in barockem Prunk festsetze und zudem ein wunderbarer Spaziergang im grünen Herzen Prags mit einigen herrlichen Momenten. Die Geschichte von dem Hund in dem Brunnen habe ich noch gar nicht erzählt; aber es sollen ja auch keine Kleinseitner Geschichten werden.