Glasklar ist das Wasser der Loisach auf dem Bild, kein Schaum oder aufgewirbelter Schlamm trügt die Sicht.
Klar – eindeutig erscheint uns auch im Alltag so manche Situation, nachvollziehbar ein Standpunkt, ein Argument. Manchmal sind wir dennoch überrascht, wenn die Konsequenz, die die Beteiligten daraus ziehen, völlig anders ausfällt, oder sich eine Situation ganz anders entwickelt, als wir es erwartet haben.
Wer schon mal versucht hat, einen Gegenstand im klaren Wasser zu greifen, weiß, dass der Schein trügt, etwas doch nicht dort ist, wo es zu sein scheint, dass es auch anders aussieht, wenn es an die Oberfläche kommt.
So wie der Brechungswinkel des Wassers die Perspektive verändert, sind es auch die unterschiedlichen Blickwinkel und Perspektiven, die im alltäglichen Miteinander zu Irritationen führen:
Ein Gespräch – vier Personen diskutieren über ein konkretes Problem, hören die selben Worte, klären Fragen, vereinbaren den weiteren Weg – und merken erst nach einigen Wochen, wie die nächsten Schritte gegangen werden sollen, dass doch jeder etwas ganz anderes verstanden hat.
Wie kommt es dazu?
Es war doch alles klar, klar, wie das Wasser auf dem Foto.
Sucht man mit den Beteiligten das Gespräch, stellt man fest, dass jeder das Gesagte aus einem andern Winkel gehört und seine Erfahrungen, Erwartungen, Wünsche zu Grund gelegt hat
Nicht die Worte an sich, die persönliche Interpretation, das, was ich verstanden habe, bestimmt mein Handeln und sorgt dafür, dass ich etwas Bestimmtes erwarte. Wenn ich sicher gehen möchte, dass wir alle an einem Strang ziehen, das gleiche Ziel verfolgen oder ich den anderen verstehe, muss ich sehr aufmerksam sein. Ich darf nicht von mir und meinen Erfahrungen auf den anderen schließen, sondern muss nachfragen. Ich darf nicht mir selbst die Antwort auf die Fragen geben, die sich bei mir im Gespräch auftun, mir Unklarheiten nicht selbst erklären, sondern muss den anderen auffordern, mir zu erzählen, was er damit meint, wie er sich den weiteren Weg vorstellt.
Erst wenn ich mir die Zeit nehme, die Perspektive des anderen einzunehmen, mich unter die Wasseroberfläche zu begeben, verstehe ich den anderen, sehe den weiteren Weg und werde weniger davon überrascht von dem Aussehen des Steins, den ich aus dem Wasser hole.
Gastbeitrag von Dorothea Elsner.
Das Bild ist das Blatt „April“ aus unserem Jahreskalender 2015 „La forma dell‘ acqua“ zur Ausstellung „formen des wassers„.