Warschau: Eine Suche

Vor 44 Jahres war ich das letzte Mal in Warschau. Ich war durchaus zwischendurch in Polen, meistens jedoch in Schlesien. Dort läuft das Leben ein wenig langsamer als im hippen Warschau, wo ich gestern ankam. Aber ich übertreibe. So hip ist Warschau nämlich gar nicht, auch wenn es das wohl gerne wäre. Natürlich gibt es auch hier all das Jungvolk, das nichts besseres zu tun hat, als auf diesen wunderbaren neuen elektrischen nicht-mehr-Tretrollern durch die Straßen zu pesen, natürlich sind auch hier sämtliche Sushi Bars mittags von jungen Männern in Konfirmationsanzügen in verwaschenem blau bevölkert, die mit nackten, stachligen Männerbeinen in Sneakern demonstrieren, dass sie voll im Trend liegen. Und auch all die gebräunten jungen Damen , die ihre nackten Beine in kurzen Röcken auf dem abendlichen Weg zum Weichsel Strand möglichst dekorativ in der Tramlinie 4 arrangieren, auch sie sind natürlich voll hip.

Markthallen wie in der Provinz – © 2019 T M Glaw

Daneben gibt es aber noch die vielen jungen Familien, die die Einkäufe nach Hause schleppen, die vielen alten Frauen, die sich mit dem Rollator aus Jaruzielskis Zeiten durch die Stadt bewegen und die vielen alten Männer in Unterhosen auf irgendwelchen baufälligen Balkonen, die morgens um elf wohl schon ein Rendezvous mit der Wodkaflasche hatten.

Wenn man als Deutscher nach Warschau kommt, egal wie jung oder alt man ist, wird man den letzten Krieg nicht los. Es waren die Deutschen, die diese Stadt auf der Westseite der Weichsel dem Erdboden gleich gemacht haben – auch wenn die rote Armee auf der Ostseite einfach tatenlos zugesehen hat. Zumindest verdanken wir dieser Tatsache heute einen außerordentlich kreativen Stadtteil namens Praga, der sich in den vergangenen 6 Jahren von der dunklen Seite Warschaus zur hippen gemausert hat. Na ja,da haben wir es wieder: hip … Sagen wir lieber chaotisch – kreativ, das wird man dort lieber hören und es entspricht auch eher der Wahrheit. Ein wenig wie die Anfänge von Haidhausen vor dreißig Jahren, wenn ich das mal als Wahlmünchner so behaupten darf. Ich bin gespannt, ob man hier in Warschau die Gentrifizierung aufhalten kann, oder ob die Jüngelchen mit ihren gestylten Mädels und den Konfirmantenanzügen hier demnächst auch Einzug halten. Natürlich mit Bart. Bei so manchem fragte ich mich heute Mittag, ob letzterer vielleicht doch aus einem Theaterfundus stammt – irgendwie war das Kind zu jung dafür.

Wandkunst – © 2019 T M Glaw

Der Wandel der Bausubstanz ist faszinierend. Neben den überwiegend aus den fünfziger Jahren stammenden Plattenbauten stampft man ein Hochhaus neben dem nächsten aus dem Boden. Durchaus wagemutige Architektur, nebenbei bemerkt. Liebeskind lässt grüßen. Das faszinierende ist, dass es irgendwie ein Gesamtbild ergibt. Das Störenste ist vielleicht die nach dem Krieg nach den Canaletto Bildern wieder erstandene Stare Miasto, die Altstadt, heute das Mekka der Touristen und der Con-Artisten. Wie haben sie nur kurz gestreift und eigentlich war das schon zu viel.

Einkaufzentrum im Herzen Warschaus – © 2019 T M Glaw

Kann man die vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts als Deutscher in Warschau vergessen? Ich glaube nein, aber all das Leben, das um einen herum passiert, zeigt, dass die Zeit weitergeht. Was könnte es besseres geben, als in der Geschichte verankert zu sein, während das Leben weiterhin seine Geschichten schreibt.

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