Zwischen-Zeit

Grau und unruhig ist das Meer, unruhig wie die Welt um uns herum. Der frische Wind und die Strömung lassen das Wasser brodeln, aufschäumen und sich überschlagen.

Wie das Meer ist auch bei uns vieles in Bewegung, verändert sich, entwickelt seine eigene Dynamik. Einige Themen entstehen, bäumen sich auf und verschwinden wieder aus den Meldungen, dem Tagesgeschäft und dem eigenen Leben; andere spitzen sich zu, gefördert von der Informationsflut, die es schwer macht, den Überblick zu behalten und befeuert wird von Kommentaren. Vieles ist in den letzten Wochen und Monaten diskutiert worden und manchmal erscheint mir der Jahreswechsel als Brennglas missbraucht zu werden, schaut man doch auf das Jahr zurück und bewertet die Vielschichtigkeit des Gewesenen aufgrund der Ereignisse, die sich in einem zweistündigen Jahresrückblick mit Bildern und Interviews bei einer Talksendung gut darstellen lassen. Das „Wort des Jahres“, das ich selten im vergehenden Jahr verwendet habe, steht für mich ebenso wenig für das, was dieses Jahr ausgemacht hat, wie die großen Ereignisse. Es sind vielmehr der persönliche Bezug, die Begegnungen, die kleinen Momente und Erfahrungen, die geschehen sind und die selten zum Jahresende „abgeschlossen“ werden.

Das Meer bei Ostia - Kalender 2015 - © Thomas Michael Glaw

Das Meer bei Ostia – Kalender 2015 – © Thomas Michael Glaw

Das Leben entspricht eher dem Rhythmus des Meeres: Vieles, was wir tun und anpacken, orientiert sich nicht am Jahreswechsel; es entsteht irgendwann durch einen Gedanken, ein Gespräch, eine Begegnung, reagiert auf eine Veränderung und hat seinen eigenen Zeitplan.

Anders als in den letzten Jahren, in denen ich im Dezember Zeit zum Aufarbeiten der turbulenten Herbstmonate hatte, war dieser Advent voll mit Terminen, Gesprächen und entsprechenden Vorbereitungen. Wenn ich auf diesen Jahreswechsel blicke, sehe ich auf viele Ideen, die noch nicht fertig gedacht sind, einige Projekte, die am Entstehen sind, andere, die noch nicht abgeschlossen wurden, zum Teil auch im argen Verzug sind. In den letzten Arbeitstagen, in denen die Zeit am zerrinnen war, habe ich mich bei manchem gefragt, was von den To-Dos auf meiner Liste wirklich bis zum Jahresabschluss fertig sein muss, welche Protokolle und Emails, die mich viel Zeit und Mühe kosten, wirklich noch gelesen werden und was davon bis zum nächsten Jahr warten kann. Letztendlich habe ich die Zeit genutzt, denjenigen, mit denen ich viel zusammen gearbeitet habe, zu schreiben und etwas viel Wertvolleres geschaffen, als beschriebene Karten: einen Dank zum Abschluss dieses gemeinsamen Weges mit Aussicht auf ein Weitergehen.

Gedanken zum Kalenderblatt „Dezember“ unseres Jahreskalenders 2015

Gastbeitrag von Dorothea Elsner

 

Regenguss

Der Regenschauer machte unserem Spaziergang ein jähes Ende: wie aus Eimern schüttete es vom Himmel; in kürzester Zeit verwandelten sich Wege und Straßenränder in Bäche. Die einzelnen Regentropfen sind für sich genommen harmlos, an warmen Tagen sind sie schneller verdunstet, als man sehen kann. Erst in der Masse sorgen sie dafür, dass die Kleidung, Straßen und Wege durchweicht werden und Rinnsale zu Bächen anwachsen, die kleinere und leichtere Dinge mit sich reißen.

Regenguss -Kalenderbild Oktober 2015 - © Thomas Michael Glaw

Regenguss -Kalenderbild Oktober 2015 – © Thomas Michael Glaw

 

Die Wirkung der Masse – dieses Phänomen macht mich zunehmend nachdenklicher und macht mir manchmal auch Angst:

Da sind die Flüchtlingsströme, die nach Europa und vor allem nach Deutschland drängen. Immer neue Hochrechnungen und Meldungen von den Asylbewerbern füllen Seiten von Zeitungen und Onlineportalen. Der einzelne Mensch aus Syrien, Nigeria, Eritrea oder woher er auch kommen mag mit seiner Geschichte, seinen Hoffnungen und Ängsten wird von der Gruppe „Flüchtlinge“ aufgesogen, einer Gruppe, die inhomogener nicht sein könnte, einer Gruppe, die er oder sie sich nicht ausgesucht hat und die durch ihre zunehmende Größe immer mehr Ängste erzeugt. Viele Ehrenamtliche, die sich für das Thema Asyl engagieren, haben mir in den letzten Wochen erzählt, dass sie in der Arbeit und in Gesprächen mit den Flüchtlingen viel voneinander lernen und dass die Begegnung mit der anderen Kultur eine Bereicherung ist. Aber die positiven Erfahrungen gehen in den negativen Meldungen, der Hilfslosigkeit und den fehlenden Strategien zum Thema Asyl unter, es überwiegt zunehmend die Angst vor Überfremdung und Überforderung.

Da ist die große Zahl der Ehrenamtlichen, Menschen, die sich für andere engagieren und die über ihre Grenzen gehen. Dabei hat das Wort „Gutmenschen“ in den letzten Monaten verschiedene Fassetten bekommen: Menschen, die nach Lösungen suchen und für ihre Ideen nach Mitstreitern suchen; Menschen, die sich und ihre Zeit einfach zur Verfügung stellen und mit anpacken; Menschen, die durch ihr Engagement ein besonderes Ansehen erwerben wollen. Auch hier sind die Interessen der Gruppenmitglieder sehr vielfältig und es braucht ein selektives Hinschauen, um nicht falschen Zielen nachzujagen oder auf der Strecke zu bleiben.

Und da sind auch die Menschen, die auf die Straße gehen und protestieren, sich in dunkler Kleidung am Abend in der Fußgängerzone treffen und mit Trillerpfeife und Transparenten Position beziehen. Aber tun sie das wirklich? Sind die Parolen, die dort gerufen werden, wirklich das Ergebnis einer Beschäftigung mit der Situation und den Erfahrungen, die sie gemacht haben, oder geben sie nur wieder, was andere gesagt haben? Ja, diese größer werdende Gruppe vor der Feldherrnhalle in München mit den einschlägigen Aussagen macht mir Angst.

Es ist mühsam, den einzelnen Tropfen im Regenguss zu sehen, dem einzelnen Menschen in der Masse in die Augen zu schauen und ihn mit all seinen Idealen, Fragen und Ängsten ernst zu nehmen – aber wenn uns dies nicht gelingt, wenn wir keine Wege zur persönlichen Begegnung schaffen, werden wir dem Sog der Masse nichts entgegen zu setzen haben.

Gastbeitrag von Dorothea Elsner zum Blatt Oktober unseres Jahreskalenders 2015

Ruhiges Fahrwasser

Ruhig und gleichmäßig fließt die Loisach dahin, nur die kleine Landzunge sorgt für leichte Wellen, die flach über das Wasser gleiten. Nach den Stromschnellen, kleinen Wasserfällen an Engpässen des Flusses weitet sich das Flussbett und biete ein Bild der Entspannung.

Loisach - © Thomas Michael Glaw

Loisach – © Thomas Michael Glaw

Nach einer turbulenten Arbeitswoche, dem Abschluss eines Projekts, das in der Endphase noch einmal richtig hektisch wurde, zieht es mich an solche Orte, an denen ich abschalten, zur Ruhe kommen und durchatmen kann. Auch im Alltag ist es gut, wenn nach einer lebhaften Zeit Ruhe einkehrt, nach Tagen mit vielen Terminen und Besuchen der Kalender leer ist.
Wenn ich die Menschen um mich herum betrachte, scheint es diejenigen zu geben, die gerade vor der Stille, dem zur Ruhe kommen, zu fliehen scheinen. Es scheint für sie nicht vorstellbar zu sein, zu schweigen, nicht oder allein unterwegs zu sein und sich mit sich selbst zu beschäftigen. Neben der realen Welt bietet auch die digitale vielfältige Möglichkeiten der Flucht vor sich selbst und dem allein sein. Im stetigen „sich neu Erfinden“ verlieren sie jedoch die Orientierung und sich selbst.
Für andere Menschen hingegen scheint die Ruhe, das ruhige Fahrwasser das zu sein, wonach sie streben. Sie bleiben am liebsten im vertrauten Kreis, planen lange im Voraus und tun sich schwer, wenn sich etwas ändern, sie gezwungen sind, sich auf andere und auf Neues einzulassen. Spontanität bedeutet für sie Anstrengung und Unsicherheit. Ihr Lebensmittelpunkt ist das eigene Leben und das der Menschen um sie herum, eine Welt, die immer kleiner zu werden scheint.
Im ruhigen Fahrwasser unterwegs sein, bekannte Wege gehen, nichts Spektakuläres tun sondern einfach auf einer Bank die Sonne genießen, ein Buch zu lesen oder den Gedanken freien Lauf zu lassen, keine Diskussionen zu führen, sondern sich darauf verlassen, dass der andere mich versteht, ich sein kann, wie ich bin, ist sehr erholsam.

Ich brauche jedoch nach einer Weile auch wieder ein paar Stromschnellen.

Gastbeitrag von Dorothea Elsner zum Blatt September unseres Jahreskalenders 2015

Meeresrauschen

Altantic Ocean in Delaware - Copyright Thomas Michael Glaw

Altantic Ocean in Delaware – Copyright Thomas Michael Glaw

Dämmerung am Atlantik in Delaware – die Sonne taucht die Wasserfläche und den Himmel in ein sanftes blau-rosa.
Es ist ein friedlicher Moment, den man zu diesen Zeiten am Meer erleben kann, am frühen Morgen wie auch am Abend. Es scheint, als würden die Vögel inne halten, schweigen, zur Ruhe kommen. Aber auch das Wasser scheint während der Dämmerung ruhiger zu werden und die Wellen sanfter ans Ufer zu rollen.
August und September zieht es viele Menschen ans Meer, raus aus der Stadt und dem gewohnten Umfeld, raus in eine andere Umgebung, Abstand schaffen zwischen dem Alltäglichen und der Arbeit, genießen von Strand, Sonne und dem gleichmäßigen Rauschen der Wellen.
Auch mich zieht es immer wieder ans Meer, obwohl ich dem Strandurlaub nicht viel abgewinnen kann und mich nach zwei Tagen Badeurlaub wieder auf Entdeckungsreise begebe, um Land, Leute und Kultur kennenzulernen. Das Spiel von Wasser und Sonne, die Farben des Lichts, der Geschmack der salzigen Luft und das Wehen des Windes faszinieren mich. Am Morgen sind es die sanften Rottöne, in die die Sonne die Welt taucht, am Abend genieße ich die tiefe Dunkelheit, die mich nach der Dämmerung allmählich umfasst und das Meer in sich aufnimmt, so dass nur noch das Rauschen der Wellen übrig bleibt. Am Strand sitzend lausche ich den brechenden Wellen, die unregelmäßig und mit unterschiedlicher Intensität ans Ufer rollen. Dabei gehen meine Gedanken auf Reisen, Ideen, Erinnerungen und Erlebnisse tauchen vor meinem geistigen Auge auf, einige verblassen sehr schnell, andere klingen noch lange nach, wie die große Welle Hokusais oder werden von weiteren Gedanken verstärkt.

Es tut gut, sich am Meer die Zeit zu nehmen und den Wechsel von Tag und Nacht bewusst wahrzunehmen; morgens gemeinsam mit der Natur das Erwachen des Tages zu erwarten und neugierig zu werden, was er bereit hält; abends, um dem vergehenden Tag nachzuspüren, dem Erlebten einen Platz in der Erinnerung zu geben und das Belanglose auf den Wellen davon schwimmen zu lassen.

Gastbeitrag von Dorothea Elsner zum Blatt August unseres Jahreskalenders 2015

Vergänglich

Kaum sichtbar sind die Wellen am Steg des Lido di Ostia; die Wasseroberfläche schein sich kaum zu bewegen. Umso überraschter war das Bild, das sich mir beim Blick auf den Grund bot: die sanfte und doch stetig gleiche Bewegung hatte ein deutliches Muster auf dem sandigen Meeresboden hinterlassen. Ein natürliches aber vergängliches Kunstwerk, den Veränderungen der Strömungen ausgesetzt. Die Leichtigkeit, wie die Natur etwas schafft und verändert, fasziniert mich. Nichts ist lange geplant oder wird jemals fertig; sie ändert sich aufgrund der aktuellen Gegebenheiten, passt sich den Rahmenbedingungen und Widerstände an und wandelt sich; es gibt keine allumfassenden Planungen, keine Kick-off-Events und dann lange, manchmal endlos dauernde Umsetzungsphasen, kein Festhalten an Strukturen und gewohnten Abläufen. Gerade das Wasser – auf der Suche nach dem Weg des geringsten Widerstands, jede neue Chance nutzend – besitzt eine unglaubliche Flexibilität.

Lido di Ostia - © Thomas Michael Glaw

Lido di Ostia – © Thomas Michael Glaw

Flexibel sein, den Moment nutzen, Chancen erkennen – damit scheinen wir Menschen uns – besonders hier in Deutschland – eher schwer zu tun. Wir sind Meister im Planen, Organisieren, in Zuverlässigkeit und dem Schaffen von Strukturen, im beruflichen wie im privaten Umfeld. Bevor wir etwas Neues Anfangen, versuchen wir, möglichst alle Risiken auszuschließen, und geht doch etwas schief, fragen wir nach dem Schuldigen, versuchen, das Problem an einen anderen loszuwerden.
Gerade jetzt in der Urlaubszeit, wo ich in München und bei eigenen Reisen auf Menschen unterschiedlichster Länder treffe, ist es faszinierend zu sehen, wie anders dort mit dem Unvorhergesehenen umgegangen wird, wie dort Probleme behandelt und Hürden genommen werden: Südamerikaner, die am Flughafen in der Gepäckhalle Karten spielen, während sie auf das Gepäck warten, das dem Gepäckband am Madrider Flughafen zum Opfer gefallen war; Restaurantköche, die ausgegangene Zutaten kurzerhand im benachbarten Supermarkt besorgen anstelle das Gericht von der Karte zu streichen; der Händler, der seinen Kollegen nebenan nach Wechselgeld fragt, da ich nur einen 20 Euroschein dabei habe und er nicht herausgeben kann; eine Selbstverständlichkeit? Leider nicht, an den Obstständen in München sollte man besser ausreichend Kleingeld dabei haben, sonst muss man selbst eine Wechselmöglichkeit zu suchen.
Wenn Deutsche reisen, studieren sie oft schon Monate vorher Reiseführer und Prospekte, um sich ein Bild vom Ziel zu machen – und schaffen eine Erwartungshaltung, wie es dort auszusehen habe. Weicht die Realität von ihren Erwartungen ab, versuchen sie mit Schadensersatzforderungen, den Verlust der Urlaubserholung auszugleichen. Das ist sicher an der einen oder anderen Stelle gerechtfertigt, da die Schilderung doch zu blumig oder die Fotos retuschiert wurden – aber oft ist diese Enttäuschung die Reaktion auf einen natürlichen Wandel, geänderte Bedingungen vor Ort und einem falschen Bild, was aus unserem lokalen Denken heraus entstanden ist.
Mir gefällt es, überrascht zu werden, Neues zu entdecken und ich merke, es gelingt mir um so besser, je weniger ich ein durchgestyltes Programm habe, da ich sonst versuche, meine Erwartungen bestätigt zu bekommen und einem Anspruch gerecht zu werden. Ich freue mich auf die Begegnungen und Erfahrungen mit den fremden Kulturen in den nächsten Wochen, besonders auch auf Überraschendes an den bekannten Orten.
Gastbeitrag von Dorothea Elsner zum Kalenderblatt „Juli“ unseres Jahreskalenders „Forma dell Acqua“

Überfluss

Fontana dei Quattro Fiume - Rom © Thomas Michael Glaw

Fontana dei Quattro Fiume – Rom © Thomas Michael Glaw

 

Wie eine unebene, durchscheinende Wand wirkt das Wasser, das flächig in das Becken des römischen Brunnens fällt; die durchbrochenen Stellen geben den Blick auf den weißen Marmor frei.
Wasser als Element der Kunst, zur Inszenierung von Wohlstand und Reichtum – mit diesem Ziel entstanden nicht nur in Rom sondern auch in vielen anderen alten Städten unzählige Brunnen, die heute beliebte Sehenswürdigkeiten und Fotoobjekte sind.
Ich musste schmunzeln, als ich beim ersten Vertiefen in das Strategiespiel „Siedler“, die Anweisung bekam, Brunnen und Denkmäler zu bauen, um die Lebensqualität meiner Stadt zu steigern. Nicht nur im antiken Rom oder in der digitalen Reise zurück in die Vergangenheit wirken Brunnen positiv auf die Menschen. Auch bei uns sind die Orte, an denen man sie heute in Wohnanlagen, auf Plätzen und in den Städten findet, besondere Treffpunkte für Menschen jeden Alters und jeder Herkunft:
Der Springbrunnen am Stachus in München erfrischt Jung und Alt im Sommer, seien es die Kinder, die durch die Wasserstrahlen laufen und sie versuchen zu fangen, seien es ältere Damen, Jugendliche, arabischen Touristen oder afrikanische Straßenverkäufer, die sich auf den Steinwürfeln sitzend von der kühlen Brise berieseln lassen. Um die Wasserschale einige Meter weiter, bei der aus einer Höhe von gut 3 Metern das Wasser in die Tiefe stürzt, ruhen sich die Menschen vom Stadtbummel aus und sammeln neue Kräfte. Aber auch weniger kunstvolle Brunnen wie der in unserer Wohnanlage oder in Einkaufszentren haben eine besondere Anziehungskraft, laden zum Ausruhen, Spielen und Verweilen ein.
Es ist vor allem das Wasser, die Lebendigkeit, die es ausstrahlt, die immer wieder neuen Wege, die es sich sucht und die Erfrischung, die es ermöglicht, das den besonderen Reiz ausmacht. Wer hat nicht den spontanen Wunsch, an einem sonnigen Tag hinein zu greifen, den Wasserstrahl zu fangen und sich abzukühlen?
Vielleicht nutze ich die ein- oder andere sonnige Mittagspause in den nächsten Wochen zum Verweilen an einem der vielen Brunnen..

Gastbeitrag von Dorothea Elsner zum Kalenderblatt Juni 2015

Konzentriert

Sprudelnd, gurgelnd, schäumend prescht das Wasser durch die Partnachklamm. In vielen Jahrtausenden hat es sich eine Schneise in den Fels gespült. Aus einem breiten, seichten Flussbett mit kleinen Ausbuchtungen, sanften Strudeln, die Trichter bilden und sich um sich selbst drehen, kleinen Stromschnellen, die Steine umspielen, verdichtet sich das Wasser und schießt mit zunehmender Geschwindigkeit durch das Felslabyrinth. Je nach Jahreszeit zeigt sich dort ein faszinierend anderes Bild, gefrorene Wasserfälle im Winter, tosendes Wasser zur Schneeschmelze im Frühjahr, das bis in den Sommer hinein alles mitreißt, was im Weg liegt. Im Herbst tauchen die Bäume die Klamm in sanftes gold-braunes Licht und es ist ein Vergnügen, selbst bei Regen halbwegs trockenen Hauptes durch die Gänge der Klamm zu gehen und den Wassermassen zuzuschauen.

Partnachklamm - © Thomas Michael Glaw

Partnachklamm – © Thomas Michael Glaw

Sprudelnd, überschäumend und mitreißend, so erlebe ich – leider viel zu selten – Menschen, die von einer Idee begeistert sind, die ein Ziel haben, das sie anstreben, ungeachtet aller Einwände und Hindernisse, weil sie davon überzeugt sind. Wie bei der Klamm konzentrieren sie sich darauf, lassen den Ballast des alltäglichen zurück, die Aktivitäten, die man aus Pflichtbewusstsein, aber nicht aus Überzeugung, macht, und stecken alle Energie in diese Idee. Sie entwickeln dabei eine Lebendigkeit, die mitreißt und begeistert.
Bei dem Weg durch die Klamm entdeckt man immer wieder Baumstämme und Äste, die verkeilt zwischen Steinen festsitzen, vom tosenden Wasser umspült, oder Zweige, die von Strudeln gefangen sich immer schneller um sich selbst drehen. Auch bei den Menschen, die sich von Ideen begeistern und mitreißen lassen, gibt es diese Steine, die Fragen, eigene Ideen und anderen Ansichten, die blockieren und einen auf der Strecke stecken lassen. Manchmal hilft ein einfacher Handgriff, ein Gespräch, das Hindernis zu beseitigen, um wieder mit dem Strom zu schwimmen, sich aktiv einbringen zu können, manchmal ist es aber auch die Erkenntnis, nicht am richtigen Ort zu sein, aussteigen zu müssen und sich eigene Wege zu suchen. Denn: nach der Klamm ist man ein anderer, nicht mehr der, der man vorher war, reicher an Erfahrungen und vielleicht auch der einen oder anderen blauen Flecken und Narben.

Gastbeitrag von Dorothea Elsner zum Kalenderblatt Mai 2015

Eindeutig

Glasklar ist das Wasser der Loisach auf dem Bild, kein Schaum oder aufgewirbelter Schlamm trügt die Sicht.

Klar – eindeutig erscheint uns auch im Alltag so manche Situation, nachvollziehbar ein Standpunkt, ein Argument. Manchmal sind wir dennoch überrascht, wenn die Konsequenz, die die Beteiligten daraus ziehen, völlig anders ausfällt, oder sich eine Situation ganz anders entwickelt, als wir es erwartet haben.

Loisach im April - Copyright Thomas Michael Glaw

Loisach im April – Copyright Thomas Michael Glaw

 

Wer schon mal versucht hat, einen Gegenstand im klaren Wasser zu greifen, weiß, dass der Schein trügt, etwas doch nicht dort ist, wo es zu sein scheint, dass es auch anders aussieht, wenn es an die Oberfläche kommt.

So wie der Brechungswinkel des Wassers die Perspektive verändert, sind es auch die unterschiedlichen Blickwinkel und Perspektiven, die im alltäglichen Miteinander zu Irritationen führen:
Ein Gespräch – vier Personen diskutieren über ein konkretes Problem, hören die selben Worte, klären Fragen, vereinbaren den weiteren Weg – und merken erst nach einigen Wochen, wie die nächsten Schritte gegangen werden sollen, dass doch jeder etwas ganz anderes verstanden hat.

Wie kommt es dazu?

Es war doch alles klar, klar, wie das Wasser auf dem Foto.

Sucht man mit den Beteiligten das Gespräch, stellt man fest, dass jeder das Gesagte aus einem andern Winkel gehört und seine Erfahrungen, Erwartungen, Wünsche zu Grund gelegt hat

Nicht die Worte an sich, die persönliche Interpretation, das, was ich verstanden habe, bestimmt mein Handeln und sorgt dafür, dass ich etwas Bestimmtes erwarte. Wenn ich sicher gehen möchte, dass wir alle an einem Strang ziehen, das gleiche Ziel verfolgen oder ich den anderen verstehe, muss ich sehr aufmerksam sein. Ich darf nicht von mir und meinen Erfahrungen auf den anderen schließen, sondern muss nachfragen. Ich darf nicht mir selbst die Antwort auf die Fragen geben, die sich bei mir im Gespräch auftun, mir Unklarheiten nicht selbst erklären, sondern muss den anderen auffordern, mir zu erzählen, was er damit meint, wie er sich den weiteren Weg vorstellt.

Erst wenn ich mir die Zeit nehme, die Perspektive des anderen einzunehmen, mich unter die Wasseroberfläche zu begeben, verstehe ich den anderen, sehe den weiteren Weg und werde weniger davon überrascht von dem Aussehen des Steins, den ich aus dem Wasser hole.

Gastbeitrag von Dorothea Elsner.

Das Bild ist das Blatt „April“ aus unserem Jahreskalender 2015 „La forma dell‘ acqua“ zur Ausstellung „formen des wassers„.

Oberfläche

Freundlich, fast sommerlich präsentiert sich das Bild im Februar:
Durch die welken Gräser am Ufer schaut man auf die Weite des Staffelsees, in dem sich der blaue Himmel spiegelt. Leicht plätschern die kleinen Wellen an das seichte Ufer, wo das Wasser den Blick auf den Grund des Sees ermöglicht.
Selten wäre dieses Bild in den letzten Wochen machbar gewesen, waren doch immer wieder Schnee- und Regenwolken am Himmel im Voralpenland. „Man wird fast in das Bild hereingezogen“ sagten einige bei der Betrachtung des Bildes.

Februar am Staffelsee aus dem Kalender "La forma dell' acqua" © Thomas Michael Glaw

Februar am Staffelsee aus dem Kalender „La forma dell‘ acqua“ © Thomas Michael Glaw

Auch auf mich übt das Bild eine besondere Wirkung aus – es wirkt aus sich heraus. Anders als viele Fotos, die an ein bestimmtes Erlebnis, eine Begegnung, ein Gespräch oder eine Stimmung erinnern, die einen Moment festhalten oder dokumentieren, steht dieses Bild für sich. Es eröffnet dem Betrachter neue Horizonte, ermöglicht ein Weiterdenken.
Wasser – einerseits transparent, durchsichtig – selbst dort, wo es bereits mehrere Meter tief ist, ermöglicht es einem, auf den Grund zu schauen. Aber manches, was wir dabei sehen, täuscht. Die Bewegungen der Oberfläche verfremden die Dinge, die das Wasser bedeckt. Durch die veränderte Brechung des Lichtes kommt es zu optischen Täuschungen, die Tiefe des Wassers ist nur schwer abschätzbar, einiges wirkt kleiner, als es eigentlich ist.
Andererseits verliert das Wasser bei der Wahl des richtigen Winkels seine Transparenz und wird zum Spiegel. Es gehört zu den wenigen Elementen, die Abbilden können.
Transparenz und Spiegel – diese beiden Eigenschaften erlebe ich auch im täglichen Leben. Auf den ersten Blick erscheint mir etwa, das ich erlebe, sehr klar, verständlich und eindeutig. In einem Gespräch erzählt mir ein Freund, was er erlebt hat; ich plane eine Veranstaltung oder strukturiere meinen nächsten Tag. Aber bei näherer Betrachtung entdecke ich, dass meinem Freund ganz andere Details bei seiner Erzählung wichtig waren; beim Umsetzen meiner Tagesplanung stehe ich plötzlich vor ungeahnten Hürden, „Untiefen“, die ich bei meiner Planung nicht sehen konnte, weil ich diese Perspektive gar nicht bedacht hatte. Manchmal erlebe ich aber auch, dass meine Perspektive nicht stimmte, ich eigentlich nicht mein Gegenüber sondern nur mich selbst, meine Erfahrungen und Ideen gesehen habe, aber nicht den Menschen, der vor mir steht.
In diesen oft sehr grauen Februartagen lasse ich mich gern auf einen Ausflug ein, auf die Weite des Sees, genieße das leichte Wellenspiel und Plätschern und betrachte mich in seinem Spiegel.

 

Gastbeitrag von Dorothea Elsner.

Das Bild ist das Blatt „Fabruar“ aus unserem Jahreskalender 2015 „La forma dell‘ acqua“ zur Ausstellung „formen des wassers“. Der ganze Kalender findet sich unter http://www.thomasmichaelglaw.com .

Am Ufer

Am Ufer des Tegernsees liegt noch Schnee; ein einsames Teichhuhn schwimmt auf dem sich leicht kräuselnden Wasser. Ein winterliches Bild, typisch für diese Jahreszeit in der Voralpenregion.
Wasser – dieses Thema wird mich durch meine Blogbeiträge in diesem Jahr begeleiten. Es ist zunächst eines der wichtigsten Grundelelemente, das wir zum Leben brauchen. Aber nicht nur die Symbolik, auch die verschiedenen Formen, die es annehmen kann, faszinieren. Dabei ist es nie das Wasser selbst, dass eine Form annimmt, es sind immer äußere Einflüsse, durch die es seine Form verändert:
durch unterschiedliche Temperaturen erlangt es verschiedenene Gestalten; Wind, die Anziehungskraft des Mondes oder abschüssige Flächen geben ihm eine Dynamik, bringen es in Bewegung; Gegenstände, die ihm im Weg liegen, erzeugen Drehbewegungen, werden durch die Einwirkung des Wassers verändert und zeigen durch die Spuren, die es an ihnen hinterlässt, seine Kraft.

Tegernsee - Kalender 2015

Tegernsee – Kalender 2015

Wasser ist zunächst einfach nur da. Ob hier als See, dessen Oberfläche sich durch den leichten Wind kräuselt, als Schnee, der durch Kälte entstanden ist und nun einen Teil der Landschaft sanft aber beharrlich bedeckt, als Regen, Tau, Nebel, Eis. Erst besondere Gegebenheiten lassen es für uns zum Quell des Lebens oder zur Bedrohung und zerstörerischen Kraft werden, wie sich in den Überschwemmungen, den unter dem Gewicht des Schnees zusammenbrechender Dächer der letzten Jahre gezeigt hat.

Im Betrachten des Wassers entdecke ich eine Parallelität zum Leben an sich: auch dieses ist zunächst einfach da. Es wurde uns mit der Geburt geschenkt, aber auch seine Gestalt ist nicht vorgegeben. Es liegt an uns, an unseren Ideen, wie auch an den inneren und äußeren Einflüssen, es zu gestalten, ihm Bewegung und Richtung zu geben. Manchmal ist es ein leichter Wind, der unser Leben in Bewegung bringt, ein Gedanke, eine Idee, manchmal ist es ein Erlebnis, eine Erfahrung, die bisher wichtiges ganz oder für eine Zeit bedeckt, wie Schnee oder Eis.

 

Gastbeitrag von Dorothea Elsner. Das Bild ist das Blatt „Januar“ und entstammt unserem Jahreskalender 2015 „La forma dell‘ acqua“ zur Ausstellung „formen des wassers“. Der ganze Kalender findet sich unter http://www.thomasmichaelglaw.com .