Wenn man an einem sonnigen Oktobertag durch Paris läuft, gibt es viele Momente, an denen man Georges Eugène Haussmann dankbar ist. Der Umbau der Stadt Paris ist zu seinen Lebzeiten und auch danach oft kritisiert worden. Egon Friedell sah das „neue Paris“ Haussmanns 1931 in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit als „getreues Abbild des Zweiten Kaiserreichs: fassadenhaft, niederschreiend, künstlich und parvenühaft“.
Paris 2016 – © Thomas Michael Glaw
Ich würde dem Meister fünfundsiebzig Jahre später gerne widersprechen. Die Sichtachsen, die Haussmann geschaffen hat, und die bis heute Bestand haben, machen Paris leicht. Ja sogar durchsichtig . Wenn man den Hügel hinab schaut, sieht man an der Peripherie die Hochhäuser, die das Paris des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts widerspiegeln.
Das alte Paris findet sich in Fotografien. Charles Marville ist einer der Chronisten, Brassai ebenso. Ihre Arbeit wäre heute unmöglich, weil der Staat das Recht des Einzelnen auf „informationelle Selbstbestimmung“ höher einschätzt, als das Recht der Fotografen, ihre Kunst auszuüben. Bisweilen denke ich, dass der Schutz individueller Rechte die Kultur als solche ein wenig ärmer macht.
La Seine – © Thomas Michael Glaw
Wo ist die Seele dieser Stadt?
Paris und die Pariser haben, ebenso wie Frankreich und die Franzosen, oft und mit durchaus unsympathisch gallischem Impetus um ihre Unabhängigkeit gerungen. Frankreich hat den letzten großen Krieg nur siegreich überstanden, weil die Amerikaner mit ihrer gewaltigen Kriegsmaschinerie die Deutschen schlugen. Die Pariser weigern sich trotzdem, den Sieg des ungebremsten Kapitalismus zur Kenntnis zu nehmen. Das macht sie sympathisch, auch wenn es ein wenig unrealistisch scheint.
Man sieht an einem Sonntagmorgen, einmal abgesehen von unzähligen Touristen entlang der Seine und in der Nähe der angesagten Stätten, viele Pariser unterschiedlichster Rasse und Herkunft, allein, mit Familie, mit gleichgeschlechtlichem Partner, die ein unbewusstes Zeichen für die Unabhängigkeit und Schönheit dieser Stadt setzen. Es ist ein leichtes Flanieren, ein lächelndes Da-Sein. Kinder in kleinen Kinderwägen, nicht in SUV Buggies, wie in München. Offenen Blumenläden, Männer und Frauen, die nach einem Strauß suchen.
Boulevards – © Thomas Michael Glaw
Und doch ist Paris heute eine Stadt, in der die Angst fühlbar ist. Standen früher Soldaten oder Angehöriger der Garde Républicaine mit alten Karabinern Wache, so sind es heute Angehörige der Streitkräfte mit umgeschnallten Schnellfeuerwaffen. Man kann nur beten, dass sie diese Waffen nie dort einsetzen müssen, denn es sind Waffen, die für den Kriegseinsatz konzipiert wurden. Ähnlich fragwürdig sind die stets präsenten Polizisten mit Maschinenpistole vor jeder Polizeiwache. Mit viel Glück schießen sie sich nicht in den eigenen Fuß oder töten ihren Kollegen oder ihre Kollegin.
Im Stadtwappen von Paris steht „Fluctuat nec mergitur“. Wenn man durch die lichten Straßen, in denen die tief stehende Sonne eines frühen Herbstes Schatten wirft, läuft, ist man bereit, diesem Motto Glauben zu schenken. Paris wird nicht untergehen. Im Gegensatz zu München, ist Paris eine Stadt der Gegensätze, die gelernt haben, miteinander zu leben. Es ist vielleicht eine Art von erzwungenem Miteinander. Bewusst wird einem das, wenn man den RER zum Flughafen nimmt. Je dröger die Umgebung wird, je langweiliger, je silohafter die Häuser, umso weniger Weiße hat der Zug an Bord. Der Zug nach „Paris Charles de Gaulle“ fährt mitten durch die Banlieue. Trotz aller gegenteiliger Berichte, glaubte ich jedoch eine ruhige Würde bei den Müttern mit Kindern, den älteren Männern, die langsam ihren Maiskolben verzehrten, und auch den jüngeren, die sich wie alle anderen ihren Alters vor allem mit dem Smartphone beschäftigten, zu spüren.
Im „New Yorker“ dieser Woche findet sich eine Statistik, die besagt, dass weiße Haushalte den siebenfachen Wohlstand der schwarzen Haushalte akkumuliert haben. Vielleicht ist das ja in Paris oder München ähnlich. Vielleicht bieten auch unsere Gesellschaften Zuwanderern keinen wirklich fairen Zugang zum Arbeitsmarkt. Sicher ist Donald Trumps Aussage, der Schwarze sei faul, schlicht falsch. Vielleicht ist es meine romantische Ader, die all dies zu sehr auf die leichte Schulter nimmt. Trotzdem finde ich, dass das lichte Paris, in dem so viele Menschen unterschiedlichster Herkunft den sonnigen Nachmittag genießen, Hoffnung macht. Hoffnung auf andere Zeiten, die wir nur gemeinsam erreichen können.
Invalidendom Paris – © Thomas Michael Glaw
Die Weite des Blicks in Paris ist immer wieder faszinierend. Ich empfinde auch das Miteinander der Menschen im Stadtzentrum als Hoffnungsschimmer. Ich weiß, es leben die Menschen im Banlieue. Ich weiß, ihre Chancen sind offenbar beschränkt. Aber sie haben Chancen. Es mag merkwürdig erscheinen, aber ich finde die Chancen in dieser großen Stadt Paris greifbarer als in meiner temporären Heimat München. Vielleicht ist es ja die Illusion der Weite.